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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Autoren: Torsten Körner
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Wege zu gehen.

    Und: Willy Brandt war kein Tänzer.

Geborgen
    Rut Brandt hat sich ein Leben lang geborgen gewusst. Durch Herkunft, Heimat, Familie. Während ihr späterer Mann Willy Brandt diese drei bergenden Mächte abstreifte oder gezwungen wurde, sie abzustreifen, hat Rut Brandt ein Leben lang an diesen bergenden Hüllen, diesen Häuten ihrer Identität festgehalten.
    Sie wird am 10. Januar 1920 im Örtchen Stange nahe der norwegischen Kleinstadt Hamar geboren, die am Mjøsa-See liegt, dem größten Binnensee Europas. Hamar, das damals etwa 7000 Einwohner zählte, liegt inmitten der Provinz Hedemark, eine der Kornkammern Norwegens. In ihren beiden Erinnerungsbüchern »Freundesland« und »Wer an wen sein Herz verlor« gewinnen die Passagen über Hamar und die umgebende Natur mitunter eine lyrische Beschwörungskraft, so dass es leichtfällt, die lebendige Sehnsucht der Autorin zu spüren: »Hedemark ist mein Norwegen. Dort bin ich geboren. Dort gehöre ich hin. ›Es ist gleich, wo ich in der Welt wohne – wenn ich nur den Mjøsa sehen kann‹, sagen die Menschen in Hedemark. Bei dem kleinen Ort Stange öffnet sich die Landschaft auf stattliche Höfe und Felder. Und dann siehst du plötzlich Hamar. Von der kleinen Anhöhe wirkt die Stadt beinahe groß. Im Winter legt sich eine Eisdecke über den Mjøsa und bleibt bis weit in den April liegen. Vor der Asphaltzeit diente der gefrorene See auch als Verkehrsweg – ich erinnere mich an Lastautos mit Waren und Pferdeschlitten, die Leute von Hamar nach Gjøvik an das gegenüberliegende Seeufer brachten.« Es sind knappe, klare, unumstößliche Sätze, da muss nichts bezweifelt oder zweifelsreich erinnert werden, da werden die Sätze wie unantastbare Wegmarken zu Papier gebracht.
    Als Rut drei Jahre alt ist, stirbt ihr Vater Andreas Hansen, der als Chauffeur auf einem Gut gearbeitet hatte, an Tuberkulose. Seine Frau Manghild Hansen und ihre vier gemeinsamen Kinder stehen nun allein in der Welt. Hjørdis, Martha (Tulla gerufen), Rut und Olaug. Es fällt auf, dass Rut Brandt nie den Namen ihrer Mutter genannt hat, jedenfalls nicht in ihren Erinnerungen, sie ist einfach immer nur »Mutter«. So steht die Mutter in dieser Erinnerungslandschaft fast wie eine naturhaft archaische Kraft. Die starke Frau, die Optimistin, die alles und alle zusammenhält, die keinen Mann mehr braucht und will, die nachts näht und am Tag in die Milchfabrik arbeiten geht. Mutter, die sich auf alle Künste des Haushalts versteht, Mutter, die ihren Mann in den Himmel hob: »Mein Andreas war nicht wie die anderen Männer. Er ging nicht in Arbeitskleidung wie sie. Er trug Livrée mit blanken Knöpfen und Hirschlederhandschuhen und musste sich zwei Mal am Tag rasieren.« Dieser prachtvolle Mann rauchte nicht, trank nicht, er prügelte nicht, er war friedlich. Das unterschied ihn von den anderen Vätern. Für die Kinder gab es keine schlimmere Drohung als diese: »Wenn ihr nicht artig seid, heiratet eure Mutter wieder.« Andreas Hansen blieb unvergleichlich, »er erschien uns wie eine Märchengestalt«, er hatte nur einen Fehler, für den er nichts konnte: Er starb zu früh. Während Willy Brandt von seinem Vater nichts wissen wollte, weil der von ihm nichts hatte wissen wollen, wollte Rut Hansen von ihrem Vater alles wissen, weil sie keine eigene Erinnerung an ihn besaß.
    Damit kein anderer Mann die Vaterstelle einnimmt, damit die Mutter tagsüber in der Fabrik arbeiten kann, sind die Töchter frühzeitig gefordert, den Haushalt zu führen und Geld dazuzuverdienen. Eine weiterführende Schule kann keine von ihnen besuchen. Mit 15 Jahren geht Rut von der Schule ab, arbeitet zunächst in einer Bäckerei, dann beginnt sie eine Schneiderlehre. Die Familie ist arm, aber, so liest es sich, fröhlich. Arm darf man sein, aber man darf nicht arm scheinen oder für arm gehalten werden. »Wir lernten früh, dass es wichtig war, hübsch gekleidet zu sein. Arm war man, wenn man in zerlumpten Sachen herumlief und wenn man dreckig war.« Der Dreck muss bekämpft werden. Putzszenen schildert Rut Brandt einige und sie verbindet damit Klarheit, Frische, Reinlichkeit, aber auch Geselligkeit und familiären Zusammenhalt: »Sonntag war ein guter Tag. Mutter war zu Hause und verbreitete Wohlbehagen. Wenn der Sonnenschein über den frisch gescheuerten Küchenboden schien, wenn vier Paar Schuhe blankgeputzt beim Holzkasten standen, wenn der Frühstückstisch festlich gedeckt war mit Eiern und Ansjovis, Dauerwurst
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