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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Autoren: Torsten Körner
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Brotszene immer als politisches Initiationserlebnis verstanden. Mit 14 tritt er den »Roten Falken« bei, dann, mit 15, wird er Mitglied der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ). Er entdeckt sich als Redner, als Agitator, er erlebt die Zustimmung der Gruppe, ihren Beifall oder ihre Ablehnung als ich-bildende Substanzen, als Stufen zum Ich-Ideal. In »Links und frei« analysiert er: »Mir hat die Jugendbewegung viel bedeutet: Durch die Gemeinschaftserlebnisse, wohl auch als Familienersatz und gewiss als Boden persönlicher Erprobung.« Er macht sich selbst, bildet sich selbst, zieht sich selbst heran. Ein Selbstgemachter, ein sich auf sich selbst Verlassender. So sieht er es.
    Brandt ist ein guter Schüler. Als begabter Schüler darf er das Johanneum besuchen, überwiegend ein Gymnasium für Bürgerkinder, Brandt ist eines der wenigen Arbeiterkinder. Zunächst ist er einer der besten Schüler, seine Leistungen sacken aber ab, als er sich in die Politik stürzt. Er fehlt viel, schreibt sich die Entschuldigungen selbst, gleichwohl schafft er das Abitur mit leichter Hand. Im Abituraufsatz legt er selbstbewusst dar, dass die Schüler der Schule nicht eben viel zu verdanken haben, weil man auf ihr nichts »Wesentliches fürs Leben« lerne. Auch diese Anekdote hat Brandt oft erzählt, auch sie bekräftigt das Pathos eigenverantwortlicher Selbsterschaffung. Früh wollte sich dieser junge Mann niemand anderem verdanken, früh hat er darauf hingewiesen, trotz aller Widerstände aus eigener Kraft seinen Weg gegangen zu sein.
    Im Hinblick auf den Familienmenschen Willy Brandt lassen sich einige Kindheitsmuster feststellen: Die Familie wird von ihm als diskontinuierliche und disparate Erzählung erlebt. Sie ist kein verlässlicher Raum der Selbstfindung und Selbstbegründung. Daraus resultiert ein verkümmerter Familiensinn. Willy Brandt ist früh in sich selbst zerfallen. In der frühkindlichen Phase seines Lebens fehlen Mutter und Vater. Der Großvater als Orientierungspol tritt erst in sein Leben, als Brandt fünf Jahre alt ist. Der übernimmt zwar die Vaterstelle, aber dass da ein anderer ist, dass da einer fehlt, ist dem Kind nur zu klar. Der abwesende Vater begleitet den Sohn wie ein Schatten, der verborgen werden muss. Anstatt ihn selbst durch Sprache ans Licht zu bringen, unterdrückt der Sohn dieses Scham-Erbe, das später von anderen hervorgezogen und missbraucht wird. Der junge Willy Brandt verinnerlicht die Dachkammer als Lebensraum und Lebensweise. Sich zurückziehen, die Tür schließen, mit sich selbst und über sich selbst und über die Welt und die anderen sprechen. Das Selbst wird zur Dachkammer, zum Labor, in dem man Selbst-Bilder entwickelt. Willy Brandt hat es nicht gelernt, seine Gefühle zur Sprache zu bringen. Da es an verlässlichen emotionalen Bindungen fehlt, ist er gezwungen, vieles allein auszutragen. Er leidet, im privaten Raum, an emotionaler Ausdrucksschwäche. Zeitweilig versinkt er in Sprachlosigkeiten, lastendem Schweigen. Das Leitbild des Politikers, sein Ur-Bild, ist August Bebel. Dieser »große Vater« wird ihm früh nahegebracht. Er lernt, dass einer zwar tot, dennoch aber sehr lebendig sein kann. Das Bildnis des gütigen Vaters macht er sich zu eigen. Willy Brandt bliebt ein Leben lang auf der Suche nach dem Lagerfeuer. Die gesellige Runde ist ein Kreis von Menschen, der durch Ideen, durch gemeinsame Wege und Erlebnisse verbunden ist. Wer das Lagerfeuer sucht, geht auf Wanderschaft. Brandt wird zum Vagabunden, der immer wieder aufbricht, sich losreißt, um sich draußen zu holen, was er drinnen nicht bekommt. Der Kampf um das gerechte Brot und gegen das Gnadenbrot ist ein Lebensantrieb, ein Lebensmotiv. Politik wird als Chance erkannt, verschiedene Entwicklungsstufen und Erlebnisse zu integrieren, sich selbst zu finden und zu erfinden. Politik ist die Chance, vielen Menschen nahezutreten, ohne dem einen Menschen wirklich nahekommen zu müssen. Politik ist eine Haut.
    Oberstudienrat Dr. Kramer unterrichtete Willy Brandt auf dem Johanneum in Französisch und Englisch. Was hat er gemeint, als er seine Mutter Martha Frahm beiseitenahm und ihr den Ratschlag gab? »Halten Sie Ihren Sohn von der Politik fern! Der Junge hat gute Anlagen, es ist schade um ihn. Die Politik wird ihn ruinieren.« Kramer, ein Gegner des Nationalsozialismus, wurde 1933 gezwungen, das Johanneum zu verlassen. Er wusste keinen Ausweg und nahm sich das Leben. Sein Schüler Herbert Frahm war jung und frei genug, andere
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