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Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Die Familie Willy Brandt (German Edition)

Titel: Die Familie Willy Brandt (German Edition)
Autoren: Torsten Körner
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Bebels Taschenuhr, die ihm als sein legitimer Erbe und Nachfolger wie eine Reliquie, wie ein Vater-Sohn-Erbstück übergeben wurde. Brandt vergisst auch nicht, seine Leser über die Uhr wissen zu lassen: »Sie ging noch gut.« Brandt, der seine leibhaftige Familie nur diskontinuierlich erlebt hat, betont in dieser Passage den Kontinuitätsgedanken, er lässt den Geist des Mannes gleichsam über sich schweben (»hatte ich die Empfindung, ihn noch selber zu treffen«) und führt auch die Aura-Boten an, die Bebel »gehört und gesehen hatten«, denen er in Lübeck häufig begegnet war und die ihm Bebel zutrugen, antrugen, die ihm die Aura des Mannes übermittelten.

    Nachdem Willy Brandt Berliner Bürgermeister geworden war und sich 1960 anschickte, das erste Mal Kanzlerkandidat der SPD zu werden, veröffentlichte er unter dem Titel »Mein Weg nach Berlin« erstmals eine Autobiographie. Längst hat Willy Brandt Herbert Frahm abgespalten, und er lässt seinen Co-Autor Leo Lania über sein früheres Ich schreiben: »Von dem Knaben Herbert Frahm, von seinen ersten vierzehn Jahren, habe ich nur eine sehr unklare Erinnerung behalten, nicht viel mehr als die paar hier geschilderten Episoden. Ein undurchsichtiger Schleier hängt über diesen Jahren, grau wie der Nebel über dem Lübecker Hafen. (…) Es ist schwer für mich, zu glauben, dass der Knabe Herbert Frahm ich selber war.«
    Eine Episode, ein Erlebnis sticht aus diesem Nebel hervor, und Willy Brandt hat sie wieder und wieder erzählt, in seinen Büchern, Interviews und persönlichen Gesprächen, um sein Herkommen und seine Bewusstseinsbildung zu erklären. Diese Szene ist eine Ur-Szene seiner Identität, jedenfalls hat er sie retrospektiv zu einem Baustein seiner politischen Biographie gemacht. In seinen Büchern hat er sie mal flott in epischer Prosa erzählt oder als dramatisch dialogische Szene dargestellt. Aber immer hat er betont, wie wichtig sie für ihn sei.
    Streik in Lübeck, Kampf um mehr Lohn. Die Arbeiter werden ausgesperrt, kein Geld, wenig Essen. Auch Ludwig Frahm, der als Lastwagenfahrer für die Draeger-Werke arbeitet, gehört zur ausgesperrten Belegschaft. Herbert, acht Jahre alt, wohnt mit seinem Großvater in einer Dienstwohnung gleich neben dem Werk.
    Der Junge steht mit knurrendem Magen vor dem Schaufenster der Bäckerei. Brötchen, Brote, Gebäck.
    »Hast du Hunger, Junge?« Der dreht sich um. Hinter ihm steht einer der Direktoren des Draeger-Werks. Herbert blickt zu ihm auf. Das ist der »Herr Staatsanwalt«, den hat man zu grüßen, ein hoher Herr. »Habt ihr genug zu essen?«
    Der Junge sagt nichts. Schweigt. Vielleicht schüttelt er auch den Kopf. Der Direktor weiß Bescheid. Er nimmt den zögernden Jungen an der Hand, zieht ihn in die Bäckerei, kauft zwei frisch gebackene Brote und reicht sie dem verblüfften Jungen.
    »So, und nun lauf!« Das lässt er sich nicht zwei Mal sagen. Er rennt nach Hause. Zwei Brote! Was für ein unerhörtes Glück! Doch der Empfang ist frostig. Das Kind kann die Reaktion des Großvaters kaum einordnen.
    »Trag die Brote schnell zurück!« Der Junge schaut verständnislos.
    »Zurücktragen? Wieso?«
    »Kein streikender Arbeiter lässt sich von seinem Arbeitgeber bestechen. Das ist Verrat. Wir lassen uns nicht abspeisen. Wir wollen den Lohn, der uns zusteht, keine Almosen, mein Junge. Geh schon, trag es zurück!«
    Hat der Junge wirklich triumphiert, als er die Brote zurück über den Ladentisch schob? So liest man es in »Mein Weg nach Berlin«, ein Buch, das seinen Helden von Anfang an als unbeirrbaren, selbstsicheren Sozialisten auftreten lässt, ein idealisierendes Bilderbuch, das Zweifel, Irrwege und ideologische Sackgassen auf Willy Brandts Weg weitgehend beiseitelässt oder klein schreibt und eine nahezu bruchlose politische Kontinuität suggeriert. Dass der Junge trotzig triumphierte, als er das Almosen ablehnte, mag überzeichnet sein, doch die geschilderte Brot-Szene ist kein proletarisches Märchen, sondern Brandt hat hier für sich ein Lebensmotiv entdeckt: Brot holen, ohne es beschämt zurücktragen zu müssen. Er wird auf den Spuren von August Bebel ein Leben lang um soziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich kämpfen. Seine kindliche Erinnerungslandschaft ist karg, familiäre Szenen fehlen fast völlig, aber diese Szene des politischen Erwachens gehört zu seiner Daseinsversicherung. Das ist der verinnerlichte Ich-Appell: Geh, kämpf um gerechtes Brot, lehne Gnadenbrot ab.
    Willy Brandt hat die
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