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Die Falsche Tote

Titel: Die Falsche Tote
Autoren: Daniel Scholten
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Tragetasche.
    »Willst du die alle mitnehmen?«
    Er nickte. »Das ist doch ein schönes Geschenk, wenn du wieder nach Hause fährst. Dann haben alle deine Freunde bald eine Eiche aus dem Druidenwald in ihrem Garten stehen.«
    Josefin lächelte, bis Clément sich wieder dem Boden zuwandte. Dann ließ sie ihren Blick umherschweifen. Diese Verschlossenheit. Und trotz der Bäume wirkte der Wald leer. Wie ein leeres Säulengebäude. Auf einmal fiel es ihr ein. Das Mädchen. Das dunkelhaarige Mädchen aus Stockholm. So eigenartig war sie gewesen. Bei dem Treffen hatte sich Josefin gefragt, was mit ihr nicht stimmte. Aber jetzt wusste sie es. Ihre Augen, hinter ihnen schien eine Leere zu sein, die dieser hier glich. Als hätte sich die Seele weit nach hinten zurückgezogen. Wie immer wieder in den letzten Tagen fragte sich Josefin, ob es ein Fehler gewesen war, Kontakt zu ihr aufzunehmen.
    In Gedanken hatte sie begonnen, auf- und abzulaufen. Da entdeckte sie die kleine Öffnung zwischen den Büschen und spürte sogleich den Drang hineinzuschlüpfen. Es war kein Weg, wie sich bald herausstellte, eher eine natürliche und zufällige Lücke. Nadeläste strichen über ihren Bauch. Hinter den ersten Büschen öffnete sich der Durchgang zu einem bemoosten Pfad. Sie ging weiter, obwohl sie sich immer wieder mit den Haaren verfing und über Wurzeln stolperte.
    Dann weitete sich das Gestrüpp zu einer Lichtung. Der Weg war hier zu Ende. Josefin blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihr lag ein kleiner Weiher. Die Strahlen der Sonne schienen über dem Wasser in der Luft zu stehen. Josefin hörte ein Flirren, dessen Herkunft sie nicht ausmachen konnte. Das Wasser roch brackig und nach Moor.
    Es war eine gedrängte Welt hinter unsichtbaren Mauern. Sie hatte die klare Erkenntnis, dass sie hier nicht sein durfte. Aber sie konnte sich nicht bewegen, geschweige denn umdrehen und zurückgehen. Dann bemerkte sie die Gänse. Sie waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und trieben lautlos auf dem Wasser. Graugänse. Josefin starrte auf das lautlose Gleiten. Im selben Augenblick begannen die Vögel, mit den Flügel zu schlagen und zu schnattern. Sie war zu benommen, um die Tiere zu zählen, aber es mussten fünf oder sechs sein. Die Gänse schlugen dicht über der Wasseroberfläche mit den Flügeln und erhoben sich dann in die Luft.
    Die Idylle konnte sie nicht erfreuen. Sie stand einfach nur da und brauchte eine ganze Minute, bis sie sich dem Ort wieder entziehen konnte. Er zerrte an ihr und wollte sie festhalten. Etwas ganz und gar Fremdes war hier. Sie wusste nicht, ob es gut oder böse war. Oder ob sie gut oder böse war.
    Als sie zu Clément zurückkehrte, kniete er immer noch an derselben Stelle. Die Vorderseite seines Hemdes bog sich durch. Mehr als hundert Eicheln musste er darin gesammelt haben.
    Wohin die Gänse wohl geflogen waren? Vielleicht kamen sie sogar aus Schweden. Sie erzählte Clément nicht, was sie erlebt hatte. Das Bild und die Frage begleiteten sie auf dem ganzen Rückweg bis zum Ausgang des Waldes. Erst dort glaubte sie, sich ganz aus dem Sog befreit zu haben. Als sie die Wiese und das Licht erreichten, wusste sie es. Sie erinnerte sich an ihre Ferien bei Großmutter und daran, dass sie dort nie die alten japanischen Nils-Holgersson-Folgen im Nachmittagsprogramm ansehen durfte. Aber sie konnte sich nicht mehr an den Grund erinnern, den Großmutter ihr genannt hatte.
    Am Wagen nahm sie ihr Telefon aus der Ablage und klappte es auf, um sich zu vergewissern, dass die Zeit nicht vielleicht doch stehengeblieben war. Ihr war ein Anruf entgangen. Josefin prüfte, wer der Anrufer gewesen war. Es war die Nummer des Mädchens.

I
    ΑΓΝΩΣΙΑ
Unwissen

2
    Donnerstag, 2. August, Stockholm
    Das Wasser duftete schon nach fliehendem Sommer. Dafür sorgte der kalte und ziehende Wind, der ihm von hinten um die Ohren strich. Am Himmel streckten sich hochschwebende Wolken über ganz Uppland. Für ihn war das schon der Herbst. Doch sobald er die Nase wieder ins Wasser tauchte, war sie wieder da, die gestaute Hitze. Sie ließ das Wasser wie Gemüsesud schmecken. Leichte Wellen trieben über die Oberfläche. Immer wenn er ein Wellental durchquerte, tauchten die Ufer am Horizont ab und die Geräusche der Stadt verstummten. Dann war nur noch das Schwappen zu hören. Eine kalte Strömung streifte seine Hüfte.
    Linda hockte auf dem länglichen Felsvorsprung über dem Sandstrand. Dort erwartete sie ihn immer. Er entdeckte sie, als ihn eine weite,
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