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Die Falken Gottes

Die Falken Gottes

Titel: Die Falken Gottes
Autoren: Michael Wilcke
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aufbringen, daß sie sich heute morgen auf Seyberts Schoß gesetzt und seine Berührungen ertragen hatte. Seyberts Hände hatten grob ihre Brüste gedrückt, waren auf ihrem Hemd bis zur Hüfte gewandert und hatten sich über ihren Schenkeln in den Stoff der Schürze gekrallt. Als sie seine feuchte Zunge an ihrem Hals gespürt hatte und sein Atem in ein heftiges Schnaufen übergegangen war, hatte sie ihn schnell von sich gedrängt und ihre Belohnung eingefordert. Seyberts Erregung ängstigte sie. Das meiste, was sie über die körperliche Vereinigung wußte, hatte sie auf den Wiesen beobachtet, wenn die Feldhasen sich besprangen und in einem schnellen Stakkato für ihre Nachkommenschaft sorgten. Zwar bezweifelte Anneke, daß der behäbige Seybert jemals so flink wie ein Hase gewesen war, doch sie mußte auch an die Worte ihrer Mutter denken, die |10| einmal zu ihr gesagt hatte, daß Männer sich in Tiere verwandelten, wenn sie von der Lust besessen waren.
    Anneke schlug das Buch auf und fuhr mit einem Finger die Buchstabenreihen entlang. Mit lauter Stimme las sie den Text eines Psalms: »Ich … ha… be mir vor… ge… nom… men: Ich w… will mich hü… ten, daß ich n… nicht sün… di… ge mit mei… ner Zun… ge; ich will mei… nem Mund ei… nen Za… Zaum an… le… gen, solan… ge ich den Gott… lo… sen vor mir se… hen muß.«
    Es ärgerte Anneke, daß sie die Buchstaben nur stockend zu Worten zusammenfügen konnte, und sie haderte einmal mehr mit dem bitteren Schicksal, das ihr früh den Vater genommen und ihr Leben in diese freudlose Richtung gelenkt hatte.
    Anneke war davon überzeugt, daß sie ohne ihren Vater niemals den unablässigen Eifer entwickelt hätte, Lesen und Schreiben zu erlernen. Er hatte in Paderborn das Druckerhandwerk erlernt und war von den Wirren des Krieges nach Osnabrück verschlagen worden, wo er bald darauf geheiratet und als Geselle in die Dienste des einzigen in der Stadt ansässigen Buchdruckers Martin Mann getreten war.
    Sie hatte sich oft in der Druckerei aufgehalten; sei es, weil ihre Mutter sie mit einem Auftrag zum Vater ausgeschickt hatte oder – was weitaus häufiger vorgekommen war – weil sie sich ganz einfach aus dem Haus davongestohlen hatte. Ihr Vater hatte sie dann zumeist nicht fortgeschickt, sondern sie auf eine Bank gesetzt und ihr erklärt, wie man eine Druckerpresse einrichtete und mit den lederüberzogenen Ballen die Farbe gleichmäßig auf die aus Bleilettern zusammengestellte Druckform auftrug. Wenn er anschließend die Abzüge auf die korrekte Ausrichtung der Absätze und Zeilen kontrolliert hatte und darauf, ob einzelne Lettern verdreht oder beschädigt waren, hatte er Anneke mit den Buchstaben des Alphabets vertraut gemacht. Wenn es ihr |11| gelungen war, aus ihnen Wörter zu bilden, hatte er ihr hin und wieder auch eines der kleinen, vierkantigen Bleistäbchen geschenkt, an deren Kopfende sich eine winzige Drucktype befand. Anneke bewahrte diese Bleilettern in einem Holzkästchen auf und holte sie auch heute noch oft hervor, um die spiegelverkehrten Buchstaben zu betrachten.
    Damals hatte ihr Vater oft davon gesprochen, daß er eine eigene Druckerei gründen wolle. Wenn nicht in Osnabrück, wo die Arbeit kaum für zwei Meister ausreichen würde, dann in einer anderen Stadt, in der noch kein Drucker ansässig war.
    Vielleicht hätte auch sie dort das Handwerk ihres Vaters erlernen können. Anneke war sein einziges Kind, und auch wenn ihre Mutter sich oft über die Flausen beklagte, die ihrer Tochter in den Kopf stiegen, hatte der Vater Anneke niemals das Gefühl gegeben, daß sie für ihn weniger wert war als ein Sohn.
    »Du bist mir so gut wie ein Junge«, hatte er einmal zu ihr gesagt, was Anneke sehr stolz gemacht hatte. Doch alle Träume und Hoffnungen lösten sich schon bald darauf in Luft auf.
    Anneke war noch keine acht Jahre alt, als ihr Vater starb. Er trat auf einen rostigen Nagel, der sich in seinen Fuß bohrte. Die Wunde entzündete sich und vergiftete sein Blut. Ein Bader entschloß sich, den faulenden Fuß zu amputieren, doch die Entzündung hatte sich schon in seinem Bein ausgebreitet. Ein zweiter zu Rat gezogener Medicus wickelte die Eingeweide eines Wolfes um den Stumpf, um das Gift aus dem Körper zu ziehen, doch auch diese Behandlung konnte Annekes Vater nicht das Leben retten. Er starb im Herbst des Jahres 1637, und auch heute noch, zehn Jahre später, grübelte Anneke oft darüber nach, wie ihr Leben verlaufen wäre,
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