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Die Falken Gottes

Die Falken Gottes

Titel: Die Falken Gottes
Autoren: Michael Wilcke
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wenn ihr Vater den Fuß nur eine Elle weiter zur Seite gesetzt und den Nagel verfehlt hätte.
    |12| Nach Ablauf der Trauerzeit hatte Annekes Mutter einen Knecht aus der Ortschaft Gellenbeck geheiratet, und sie waren aus Osnabrück fortgezogen. Zwar wurde es Anneke erlaubt, an einem Nachmittag in der Woche die Dorfschule zu besuchen, doch sie lernte dort zu ihrem Verdruß kaum etwas hinzu.
    »Gott liebt die Fleißigen unter den Menschen«, hatte ihr Lehrer, der magere, hohlwangige Pfarrer Scheffler, stets behauptet. Wenn das wirklich stimmte, mußte der Allmächtige Scheffler gewiß sehr gram sein, denn zumeist hatte der Unterricht darin bestanden, daß der Pfarrer seinen Schülern einige einfache Aufgaben zugeteilt und daraufhin die Augen zu einem Schläfchen geschlossen hatte. Obwohl es Anneke selbst im Vergleich mit den älteren Kindern keine große Mühe bereitete, mit Buchstaben, Wörtern und auch Zahlen umzugehen, erhielt sie nur selten ein Lob von ihrem Lehrer. Sie bemerkte, daß es Scheffler weitaus leichter fiel, die Leistung der Knaben hervorzuheben, während ihm ein ermunterndes Wort zu einem der Mädchen so schwer über die Lippen kam, als würde er gezwungen, der Heiligen Mutter Kirche abzuschwören. Wahrscheinlich befand er es schlicht als Zeitverschwendung, diese Mädchen und jungen Frauen zu unterrichten, deren Wert doch vor allem darin bestand, dem Mann zu dienen, den Haushalt zu versorgen und Kinder zu gebären.
    Wie es schien, glaubte Annekes Mutter dafür Sorge tragen zu müssen, daß ihre Tochter nicht von diesem vorherbestimmten Weg abwich. Kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag wurde Anneke von ihr nach Lengerich geschickt, einem kleinen Ort zwischen Münster und Osnabrück, um dort in der Monsbach-Schenke als Magd zu arbeiten. Nun gab es keine Möglichkeit mehr, die Schule zu besuchen. Da für gewöhnlich ihr gesamter Tagesablauf nur mehr aus Arbeit bestand, bedurfte es Seyberts Wohlwollen |13| und der passenden Gelegenheit, um sich für kurze Zeit mit einem Buch zu beschäftigen und den Erinnerungen an eine bessere Zeit nachzuhängen. Vielleicht war sie auch nur deshalb so versessen darauf, das Lesen und Schreiben zu beherrschen, weil sie nach dem Tod ihres Vaters zu oft gesagt bekommen hatte, daß es für ein Mädchen wie sie nur eine Zeitverschwendung sei, die Nase in Bücher zu stecken. Daher war genau das für Anneke eine Herausforderung. Auch wenn diese Fertigkeiten für ihre Arbeiten in der Küche und im Stall völlig unnötig waren, gab es ihr ein gutes Gefühl, wenn sie die gedruckten Wörter las oder sich mit dem Kohlestift, den sie in ihrer Kammer unter einem Dielenbrett versteckte, darin übte, Buchstaben auf Steine oder Bretter zu schreiben.
    Anneke las den Psalm noch einmal über und erfaßte erst jetzt den Sinn der Wörter.
    »Ich will meinem Mund einen Zaum anlegen«, wiederholte sie eine Passage und schmunzelte. Auch ihr fiel es schwer, ihre spitze Zunge zu zügeln. Lene, die Tochter der Monsbachs, hatte Anneke oft gewarnt, daß sie durch ihr loses Mundwerk eines Tages in arge Schwierigkeiten geraten würde.
    Anneke blätterte einige Seiten um und konzentrierte sich auf einen weiteren Psalm.
    »Aus Zi… Zion bri… bricht an d… der schö… ne Glanz Gottes. Un… ser Gott kommt u… und schwei… get nicht. Fes… seln … des Feu… er g… geht vor i… ihm her und um i… ihn her e… ein mäch… ti… ges Wet… ter.«
    Ein dutzendfaches Flügelschlagen riß Anneke aus ihrer Konzentration. In der Nähe stieg mit viel Geschrei ein Vogelschwarm über den Baumkronen auf.
    Nur einen Augenblick später ließ ein Knall Anneke zusammenzucken. Vor Schreck glitt ihr das Buch aus den Händen, und es fiel auf den Boden. Sie vernahm das Getrappel |14| von Hufen, ein Wiehern und Schnauben, dann war es plötzlich still.
    Anneke langte nach dem Gebetbuch, drückte es in ihren Schoß und schaute um sich. Nun hörte sie erneut ein Wiehern. Die Straße nach Osnabrück zog sich nicht weit von hier durch den Wald. Wahrscheinlich hatte es einen oder mehrere Reiter in das Unterholz verschlagen.
    Dieser Knall – jemand mußte eine Pistole abgefeuert haben. Vor einigen Wochen hatte ein betrunkener dänischer Offizier vor der Schankwirtschaft der Monsbachs übermütig mit seiner Pistole auf das Stalltor geschossen, und dieser Schuß hatte genauso wie das Getöse aus dem Wald geklungen.
    Lauf einfach weg, ging es ihr durch den Kopf, doch gleichzeitig reizte es sie, einen Blick darauf zu
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