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Die Falken Gottes

Die Falken Gottes

Titel: Die Falken Gottes
Autoren: Michael Wilcke
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Pferd zu und streichelte über dessen Mähne. Es gab keinen Zweifel. Dies war das Pferd des Mörders aus dem Wald. Wahrscheinlich hielt er sich nun in der Schankstube auf.
    »Wo bist du gewesen?«
    Anneke drehte sich um und sah Lene auf sich zulaufen. Die vierzehnjährige Tochter der Monsbachs machte wie so oft ein ängstliches Gesicht. Anneke wußte nur zu gut, wie sehr das Mädchen unter den Launen ihrer Mutter litt.
    Lene verschränkte die Arme vor der Brust und wiederholte ihre Frage. »Wo warst du?« Stirnrunzelnd betrachtete sie das verschmutzte Gebetbuch.
    Anneke wußte ihr keine Antwort zu geben. Lene brauchte nicht zu erfahren, daß ihr Vater diese Gefälligkeit erlaubt hatte, weil sie sich auf seinen Schoß gesetzt und seine Berührungen ertragen hatte. Sie rang einen Moment nach Worten, dann entgegnete sie nur: »Fort.«
    »Fort?« Lene zog die Stirn kraus. »Meine Mutter hat gemerkt, daß du nicht aufzufinden warst.« Sie deutete auf das Buch. »Sie ist wütend, und wenn sie sieht, was du mit ihrem Buch angestellt hast, wird sie dich grün und blau schlagen.«
    Die Sorge um eine körperliche Züchtigung kümmerte Anneke im Moment kaum. Sie wandte ihren Kopf zum Stall, wo der Apfelschimmel schnaubte und den Kopf schüttelte.
    »Wo ist der Mann, der mit diesem Pferd angekommen |22| ist?« wollte sie von Lene wissen, deren Aufmerksamkeit jedoch noch immer voll und ganz auf das lädierte Buch gerichtet war.
    »Hast du es gestohlen? Was findest du nur daran, diese Buchstaben zu Wörtern zusammenzusetzen, bis dir die Augen brennen? Mein Vater sagt, wir Frauen würden mit der Zeit erblinden, wenn wir zu oft in die Bücher schauen.«
    »Dein Vater ist ein Idiot«, meinte Anneke. Sie faßte Lene an die Schultern. »Und der Mann, dem dieses Pferd gehört, ist ein Mörder. Ich habe gesehen, wie er im Wald einen Mann getötet hat.« Sie flüsterte. »Wo ist der Kerl? Hält er sich im Schankraum auf?«
    Lene nickte.
    »Ich will ihn sehen.« Anneke wandte sich um und lief auf den Eingang der Schenke zu, doch in diesem Moment tauchte der Schiefnasige unter dem Türbalken auf. Er maß Anneke mit einem mürrischen Blick und drängte sie unsanft zur Seite.
    »Geh mir aus dem Weg, du Tölpel«, sagte er. Aus seinem Akzent war herauszuhören, daß das Deutsche nicht seine Muttersprache sein konnte. Er band sein Pferd los und stieg in den Sattel.
    Anneke verfolgte jede Bewegung des Mannes und starrte vor allem auf die Ledertasche, die er dem Toten im Wald abgenommen hatte.
    »Anneke!« Die keifende Stimme ließ sie zusammenzucken. Wütend trat die Wirtin auf sie zu und zog sie in die Schenke. Lucia Monsbachs Finger bohrten sich schmerzhaft in Annekes Oberarm. Das Gesicht unter der schwarzen Haube ließ Zornesröte erkennen. Wie immer, wenn die Monsbacherin sehr erregt war, blähten sich ihre Nasenlöcher wie die Nüstern eines schnaubenden Pferdes auf, und ihre ohnehin ausgeprägten Wangenknochen schienen noch stärker hervorzutreten.
    |23| »Was lungerst du hier vor der Tür herum wie ein lahmer Köter?« schimpfte Lucia. »Kaum bin ich fort, schleichst du dich von der Arbeit davon. Dir werde ich helfen, du faules Stück.«
    Auch Seybert Monsbach trat in den Schankraum. Er trug ein kleines Faß vom Speicher, hielt auf der Treppe inne und verfolgte das Gekeife. Erst da wurde Anneke sich darüber bewußt, daß sie noch immer das Gebetbuch in ihren Händen hielt. Wie dumm von ihr! Es wäre besser gewesen, das Buch einfach zu verstecken, doch durch die unerwartete Begegnung mit dem Schiefnasigen hatte sie nicht mehr daran gedacht.
    »Und was ist das?« rief die Monsbacherin. Sie griff nach dem verschmutzten und beschädigten Gebetbuch und nahm es an sich. Seybert kam die Treppe hinuntergeeilt. Anneke wagte nicht zu hoffen, daß der Wirt sie in Schutz nehmen würde, denn damit hätte er vor seiner Frau eingestehen müssen, daß er es gebilligt hatte, daß Anneke ihren Pflichten nicht nachkam.
    Obwohl sie also keine Hilfe von ihm zu erwarten hatte, traf sein Schlag sie überraschend. Die klatschende Ohrfeige, die er ihr verpaßte, schleuderte sie gegen die Wand.
    »Und jetzt rauf mir dir! An die Arbeit!« sagte er scharf, faßte sie grob am Arm und zog sie mit sich die Treppe hinauf in die Braustube. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, beruhigte er sich und beendete das Schauspiel. Er schaute sie vorwurfsvoll an und raunte ihr zu: »Verdammt, du hättest nicht so weit von der Schenke fortlaufen dürfen. Wo hast du nur
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