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Die Fäden des Schicksals

Die Fäden des Schicksals

Titel: Die Fäden des Schicksals
Autoren: Marie Bostwick
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können, die Natur dürfte sich in diesem Park nach Belieben austoben, wären da nicht die geraden gepflegten Wege gewesen, die den Park rechtwinkelig durchschnitten, bevor sie an dem Granit-Mahnmal für die Gefallenen des amerikanischen Bürgerkrieges zusammenliefen. So hatte man den Eindruck, der Mensch hätte der Natur eine gewisse Ordnung auferlegt und nutze sie für seine Zwecke, jedoch stets respektvoll und mit leichter Hand. Es schien, als wären die Einwohner von New Bern nicht so vermessen zu glauben, sie könnten die Natur vollkommen beherrschen.
    Es sieht aus wie ein Quilt, dachte ich bei mir, während ich auf das Kriegerdenkmal zuschritt. All die Flecken in unterschiedlichen Grüntönen bilden zusammen ein Ganzes. Deshalb fühle ich mich hier auch so wohl.
    Meinen ersten Quilt hatte ich vor fünfundzwanzig Jahren gefertigt, als ich mit Garrett schwanger war. Von dem Augenblick an ließ mich das Quilten nicht mehr los. Ich liebe Quilts, ihre geometrischen Muster mit den unendlichen Kombinationsmöglichkeiten, die sich durch die unterschiedliche Anordnung von simplen geraden Linien ergeben. Die Ordnung und Präzision des Quiltens sprechen die Seite in mir an, die dem Chaos des Lebens entfliehen will, wogegen die unbegrenzten Möglichkeiten der Farben, Stoffe und Muster meinem Verlangen nach einem Leben in Fülle entsprechen. Das Herrlichste am Quilten ist die Tatsache, dass ein ganzes Stadion voller Menschen ein und dasselbe Muster verwenden könnte, und doch kämen dabei am Ende keine zwei völlig gleichen Quilts heraus. Ganz egal, wie ungeübt oder zaghaft eine Frau auch sein mag, beim Quilten ist jede eine Künstlerin. Ob mit Bedacht oder unabsichtlich – immer enthüllt ein Quilt ein Stückchen Wahrheit.
    Als ich die Parkanlage verließ und mich den spärlicher werdenden Grüppchen der Touristen anschloss, um die letzten Strahlen der Spätnachmittagssonne auszukosten, ging mir durch den Kopf, dass ich auch hier auf ein Stückchen Wahrheit gestoßen war – auf ein Städtchen, das sich einfach gab, wie es war. Hier wäre niemand auf die Idee gekommen, einen Fluss an einer Stelle anzulegen, wo die Natur keinen vorgesehen hatte. Niemand würde die Landschaft mit irgendwelchem süßlichen Kitsch verschandeln, nur weil die Umfragen eines Meinungsforschungsinstituts behaupteten, die Leute wollten es so haben. Hier waren die Gehsteige stellenweise uneben, und aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen spross das Gras. Als ich am Grill am Anger vorüberkam, wo noch immer zahlreiche Gäste bei Kaffee oder Dessert saßen, blickte ich auf und sah, dass das handgemalte hölzerne Gasthausschild schadhafte Stellen aufwies, wo es vermutlich einst von Hagelkörnern getroffen worden war. Keinem Menschen war es in den Sinn gekommen, die Farbe aufzufrischen, um die Spuren des Winters zu tilgen und so zu tun, als wäre das Schild neu und unversehrt. Die Bewohner und Geschäftsleute von New Bern strebten nicht nach Perfektion, denn sie wussten sehr wohl, dass es gerade das Unvollkommene war, das ihrem Ort seine Authentizität verlieh.
    Eine der ersten Weisheiten, die eine Anfängerin über das Quilten lernt, ist, dass die Amischen, deren schlicht gemusterte Quilts zu den kunstvollsten der Welt gehören, stets einen Fehler in ihre Werke einbauen, da sie der Meinung sind, menschliches Streben nach Vollkommenheit sei eine Beleidigung Gottes. Selbstverständlich wissen die meisten Quilterinnen, dass man sich keine Mühe zu geben braucht, um die Arbeit unvollkommen zu machen, denn das wird sie von ganz allein. Ich kann also nicht beurteilen, ob es sich bei der Amischen-Geschichte vielleicht nur um eine Legende handelt. Doch die Vorstellung, die dahintersteckt, klingt überzeugend.
    Wenn es so etwas wie menschliche Vollkommenheit gäbe, dann würde das die Existenz eines allgemeingültigen Schönheitsideals voraussetzen – die Existenz einer einzigen Antwort auf alle Fragen. Und vielleicht gibt es das auch für Menschen wie Mr Lindsay, die keinen Unterschied zwischen einem natürlichen und einem künstlich angelegten Fluss erkennen können und nicht einsehen, warum man einen Quilt mühsam von Hand nähen sollte, wenn es mit der Maschine doch so viel schneller geht oder man ihn gleich fix und fertig für neunundvierzig fünfundneunzig beim Discounter kaufen kann. Schließlich bezahlt man allein schon für den Stoff mehr. Vielleicht können Leute wie er einfach nicht begreifen, welche Schönheit und Erhabenheit im Unvollkommenen
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