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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman
Autoren: Marc Levy
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wir in Piräus genommen hatten, lief um zehn Uhr morgens im Hafen von Hydra ein. Schon vom Kai aus sah ich Tante Elena, die, eine Schürze umgebunden, die Fassade ihres Ladens in einem kräftigen Blau strich.
    Ich stellte unsere Koffer ab, schlich mich von hinten heran, um sie zu überraschen, als … Walter mit Karoshorts, einem lächerlichen Hut und einer viel zu großen Sonnenbrille zur Tür heraustrat. Eine Maurerkelle in der Hand, machte er sich am Holz zu schaffen und trällerte dabei lauthals und schrecklich falsch die Melodie aus Alexis Zorbas . Schließlich bemerkte er uns und drehte sich um.
    »Wo waren Sie denn bloß?«, fragte er und eilte uns entgegen.
    »Wir waren im Keller eingesperrt!«, sagte Keira und schloss ihn in die Arme. »Sie haben uns gefehlt, Walter.«
    »Was machen Sie mitten in der Woche auf Hydra?«, wollte ich wissen. »Müssten Sie nicht in der Akademie sein?«
    »Als wir uns in London gesehen haben, habe ich Ihnen doch gesagt, dass ich meinen Wagen verkauft und eine Überraschung für Sie habe. Aber Sie hören mir ja nie zu!«
    »Ich erinnere mich sehr genau!«, protestierte ich. »Aber Sie haben mir nicht gesagt, was diese Überraschung ist.«
    »Nun, ich habe beschlossen, meinen Arbeitsplatz zu wechseln. Ich habe Elena den Rest meiner Ersparnisse anvertraut, und, wie Sie sehen, polieren wir den Laden auf. Wir vergrößern
die Auslagefläche, und ich hoffe, dass sie in der kommenden Saison ihren Umsatz verdoppeln wird. Sie haben doch nichts dagegen, oder?«
    »Ich bin hocherfreut, dass meine Tante einen äußerst kompetenten Geschäftsführer gefunden hat, der ihr tatkräftig unter die Arme greift«, sagte ich und klopfte meinem Freund auf die Schulter.
    »Sie sollten sich schnell hinauf zu Ihrer Mutter begeben. Sie weiß vermutlich schon, dass Sie hier sind. Ich sehe Elena am Telefon …«
     
    Kalibanos lieh uns zwei Esel aus, und Mama empfing uns, wie es sich auf der Insel gehört. Ohne uns vorher gefragt zu haben, organisierte sie für den Abend ein großes Fest im Haus. Walter und Elena saßen Seite an Seite, was am Tisch meiner Mutter etwas Besonderes bedeutete.
    Nach dem Essen rief Walter uns, das heißt Keira und mich, auf die Terrasse. Er zog ein kleines Päckchen hervor - ein Taschentuch, das mit einem Faden zusammengebunden war - und reichte es uns.
    »Diese Fragmente gehören Ihnen. Ich habe ein Kapitel abgeschlossen, die Akademie gehört für mich jetzt der Vergangenheit an, und meine Zukunft befindet sich vor Ihnen«, sagte er und öffnete die Arme in Richtung Meer. »Machen Sie damit, was Sie wollen. Ach, und noch eine letzte Sache«, fügte er hinzu. »Ich habe in Ihrem Zimmer einen Brief deponiert. Er ist für Sie bestimmt, Adrian, doch mir wäre lieber, Sie würden ihn erst später lesen, sagen wir in einer Woche oder zwei …«
    Damit wandte er sich ab und gesellte sich wieder zu Elena.
    Keira nahm das Päckchen und verstaute es in der Schublade ihres Nachtkästchens.

     
    Am folgenden Morgen bat mich Keira, sie zu der kleinen Bucht zu begleiten, in der wir bei ihrem ersten Aufenthalt auf der Insel gebadet hatten. Wir ließen uns am Ende einer langen Mole nieder. Keira reichte mir das Päckchen und sah mich eindringlich an.
    »Sie sind für dich, ich weiß, wie wichtig diese Entdeckung ist. Ich kann nicht beurteilen, ob jene Leute recht haben, ob ihre Ängste begründet sind, mir fehlen die Kenntnisse, um darüber zu entscheiden. Was ich weiß, ist, dass ich dich liebe. Wenn der Entschluss zu enthüllen, was wir wissen, den Tod auch nur eines einzigen Kindes zur Folge hätte, würde ich alle Achtung vor uns verlieren und könnte nicht mehr an deiner Seite leben, auch wenn du mir furchtbar fehlen würdest. Du hast es mir während dieser unglaublichen Reise mehrmals gesagt - die Entscheidung liegt bei uns beiden. Also nimm diese Fragmente und mach damit, was du willst. Egal, was du beschließt, ich werde den Mann, der du bist, immer respektieren.«
    Sie händigte mir das Päckchen aus und ließ mich allein.
     
    Nachdem Keira gegangen war, lief ich zu dem Boot, das unvertäut am Strand der kleinen Bucht lag. Ich zog es ins Wasser und ruderte aufs offene Meer.
    Nach etwa einer Meile löste ich das Band, das Walters Taschentuch zusammenhielt, und betrachtete die Fragmente eine lange Weile. Tausende von Bildern liefen vor meinem geistigen Auge ab. Ich sah den Turkana-See, die Insel in der Mitte, den Tempel auf dem Gipfel des Berges Hua Shan, das Kloster von Xi’an und
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