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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Autoren: Jessica Grant
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Dann lasse ich die Vorderbeine sinken und gleite hinein. Platsch.
    Die Wassertemperatur beträgt 18 Grad, Tendenz steigend.
     
    Einmal, in grauer Vorzeit, als ich noch kein Schloss und keine Wärmelampe hatte, hielt Cliff mich für tot. Ich hörte, wie er nach ihr rief. In der Küche waren es gerade mal 15 Grad. Was dachten sich die beiden bloß.
    Mit Iris stimmt was nicht, sagte er. Ich glaube, sie ist tot.
    Ich spürte, wie er mich hochhob und zum Futon trug. Sie tappte uns tapsig hinterdrein. Dann lag ich auf Cliffs breiter, warmer Brust. Ich erkannte seinen raschen Herzschlag mit dem zischenden Geräusch.
    Ich hörte sie sagen: Regel Nummer Eins.
    Ich sah nach draußen.
    Sie waren beide ganz nah. Ihre blauen Augen. Seine grauen. Ihre Lider blinzelten von oben nach unten. Ich blinzelte von unten nach oben. Ihr zwei seht glücklich und zufrieden aus, sagte ich. Kauft mir eine Wärmelampe.
    Sie vergrub ihr Gesicht an seinem Hals und schloss die Augen. Er tat es ihr nach. Ihre Hände fanden sich über meinem Panzer. Ein schöner Moment. Mir wurde warm ums Herz. Und ich spürte, wie es zu einem spektakulären Schlag ausholte.
     
    Leider gab es immer öfter hässliche Momente. Zum Beispiel als er sich den Kopf am Überhang stieß und benommen auf dem Futon saß. Sie sah aus dem Fenster und sagte: Die Bäume treiben das erste Mal und reichen trotzdem schon bis in den dritten Stock.
    Tja, wir sind eben in Oregon, sagte Cliff.
    Da, wo ich herkomme, übertreiben es die Bäume nicht.
    Ich weiß, aber wir sind eben in Oregon, sagte er.
    Das hast du schon mal gesagt. Kann es sein, dass du dir eine, wie heißt das noch gleich, Gehirnerschütterung zugezogen hast.
    Möglich.
    Es war Cliffs Heimatland, Cliffs Heimatstaat, und den fand er ganz und gar nicht übertrieben. Er wurde nicht müde, die Vorzüge Oregons aufzuzählen. Wo andere erzählten, zählte er auf. Berge, Wüste, Ozean, Flüsse, die riesigen Bäume nicht zu vergessen.
    Gut. Ja.
    Sie mähte anderen Leuten schwarz den Rasen. Manchmal sagte sie zu Cliff: Ich könnte mich schwarzärgern über dich. Und er kletterte die Wände hoch und sagte: Du treibst mich die Wände hoch. All das verfolgte ich durch das Dach meines Panasonic-Druckerkartons, denn damals hatte ich, wie gesagt, noch kein Schloss.
    Cliff hatte stets ein Seil über der Schulter hängen. Er seilte sich gern von der Feuerleiter ab. Er seilte sich überhaupt gern ab. Und kam folglich eines Tages nicht mehr wieder.
    Bevor er verschwand, sorgten sie für meine Unterbringung. Sie schaute mir ganz tief in die Augen und versprach mir ein Schloss.
    Das Schloss war aus Zeitungspapier, stattlich und stolz. Sie gab ihm einen französischen Namen: Pappmaché. Und malte es lila an. Sie füllte die Zitronentortenform mit Wasser und der einen oder anderen Träne. Dann kam die Wärmelampe. Fortan war jeder Tag hell und zitronig. Ich hatte es warm.
    Sie sagte: Ab sofort heißt du Winnifred, okay.
    Okay.
    Wir warteten auf Cliffs Rückkehr. Wir rechneten jeden Augenblick damit, dass er auf der Feuerleiter auftauchte. Erst die Hände. Dann der Kopf. Dann der Oberkörper. Dann das Geschirr. Kurz und knapp: Wir warteten. Aber er kam nicht wieder.
    Er wurde zum Vormieter.
     
    Sie hingegen wurde mir von Tag zu Tag sympathischer. Wenn die Sonne auf den Herd schien, wusste ich, dass sie bald nach Hause kommen würde. Ich wartete am Fenster auf sie. Als es kälter wurde, kam sie etwas früher. Zwar schien immer noch die Sonne auf den Herd, doch spiegelte sie sich nun im Griff der Ofenklappe. Sie roch immer seltener nach frisch geschnittenem Gras und immer öfter nach Diesel und Feuer. Sie aß Müsli zum Frühstück. Manchmal brachte sie sich von Taco Bell etwas zu essen mit und fütterte mich mit dem geschredderten Salat.
    Sie meinte, die Wärmelampe sei gefährlich. Die Türmchen meines Schlosses waren angesengt.
    Mein Herz schlug immer langsamer. Und auch die Sonne stand nicht mehr so hoch. Der Winter kam. Ich prägte mir das Rezept für Zitronentorte ein und träumte, es sei ein Rezept für mich. Ich musste meine Ausflüge an den Pool tagelang im Voraus planen, denn ich brauchte eine halbe Ewigkeit dafür. Ich musste meine Schritte auf meinen Herzschlag abstimmen.
    Dann kam der Anruf. Im ersten Moment dachte ich, sie fährt nicht. Nach Hause. Dann dachte ich über die Frage nach, wo eigentlich mein Zuhause ist. Ist es mein Panzer oder mein Schloss oder die alte Wohnung, oder ist es vielleicht doch etwas sehr viel Größeres
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