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Die Erscheinung

Titel: Die Erscheinung
Autoren: Danielle Steel
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debattieren, und es wäre ohnehin sinnlos, am einstigen gemeinsamen Heim festzuhalten. Es gehörte einer Vergangenheit an, die nicht mehr existierte. Zu seiner Überraschung konnte er das Haus schon wenig später zu einem guten Preis veräußern. Doch das war nur ein schwacher Trost.
    Kurz danach ließ er die Dinge, die er behalten würde, in die Lagerhalle einer Spedition transportieren. Eine Woche vor seiner Abreise kam Carole ein letztes Mal ins Haus, um sich von Charlie zu verabschieden. Erwartungsgemäß war es ein schmerzliches Wiedersehen - auf seiner Seite Trauer, auf ihrer Schuldgefühle, und stumme Vorwürfe schienen die Räume zu bevölkern wie greifbare Gestalten.
    Sie wusste nichts zu sagen, während sie von einem Zimmer ins andere wanderte und Erinnerungen nachhing. Im Schlafzimmer trat sie ans Fenster, starrte die kahlen Bäume im Garten an, und Tränen rannen über ihre Wangen. Sie hörte Charlies Schritte nicht.
    Reglos stand er hinter ihr, in seine eigenen Erinnerungen versunken, und als sie sich zum Gehen wandte, zuckte sie bei seinem Anblick verblüfft zusammen. »Sicher werde ich das Haus vermissen«, seufzte sie, wischte ihre Tränen weg, und er nickte.
    Ausnahmsweise weinte er nicht. So viel hatte er erlitten, so viel verloren. Langsam ging sie zu ihm. Er fühlte sich wie betäubt. »Und ich werde dich vermissen«, flüsterte er - eine maßlose Untertreibung. »Ich dich auch.« Und dann schlang sie die Arme um seinen Hals. Eine Zeit lang hielt er sie fest und wünschte, das alles wäre nicht geschehen. Wenn es keinen Simon gäbe, würden sie noch hier wohnen, und er könnte sich weigern, nach New York zurückzukehren, weil seine Frau in der Londoner Anwaltskanzlei unersetzlich war. »Tut mir Leid, Charlie.« Mehr sagte sie nicht, und er fragte sich, warum sich zehn Jahre seines Lebens in Luft auflösten. Nun musste er noch einmal von vorn anfangen, weil er irgendwo einen falschen Schritt getan hatte und die Lebensleiter hinabgestürzt war. Was für ein schmerzhaftes Gleichnis …
    Hand in Hand verließen sie das Haus, und wenig später fuhr sie davon. Es war Samstag, und sie hatte Simon versprochen, ihn in Berkshire zu treffen. Diesmal hatte Charlie nicht mehr gefragt, ob sie glücklich war. Offensichtlich gehörte ihre Zukunft einem anderen, und um das zu begreifen, hatte er neun Monate gebraucht. Jeder einzelne Moment war eine Qual für beide gewesen.
    Die letzten Tage in London verbrachte er im Claridge, auf Kosten der Firma. Anlässlich seiner Abreise fand eine Dinnerparty im Savoy statt, an der alle Kollegen und mehrere wichtige Kunden teilnahmen. Danach versuchten ihn einige Freunde einzuladen. Aber er erklärte, er sei zu beschäftigt, weil er im Büro noch einiges erledigen müsse. Seit der Trennung von Carole hatte er seine Freunde nur selten gesehen, weil es ihm widerstrebte, Erklärungen abzugeben. Es war viel einfacher, London schweigend den Rücken zu kehren.
    Bevor er das Büro zum letzten Mal verließ, hielt Dick Barnes eine höfliche kurze Rede und versicherte, er würde sich auf die Rückkehr seines Chefs freuen. Aber Charlie durchschaute die Lüge. Zweifellos hoffte sein Stellvertreter, er würde in New York bleiben und ihm die Leitung des Londoner Architekturbüros überlassen. Dafür brachte Charlie sogar Verständnis auf. Niemandem nahm er irgendetwas übel - mittlerweile nicht einmal mehr Carole. Am Abend vor dem Flug rief er sie an, um sich zu verabschieden. Aber sie war nicht zu erreichen. Vielleicht ist es gut so, dachte er. Es gab nichts mehr zu sagen - abgesehen von einer Erklärung für die Ereignisse, die er nach wie vor nicht verstand.
    Als er am nächsten Morgen in seinem Hotelzimmer erwachte, regnete es in Strömen. Er blieb noch eine Weile im Bett und glaubte, ein Felsblock würde auf seiner Brust liegen. Ein paar Minuten lang überlegte er, ob er alles abblasen, in der Firma kündigen, sein Haus zurückkaufen und sein restliches Leben in London verbringen sollte. Eine verrückte Idee - das wusste er, aber so verlockend. Während er dem prasselnden Regen lauschte, versank er in diesem Wunschtraum. Dann zwang er sich aufzustehen. Um elf musste er am Flughafen eintreffen, um eins würde die Maschine starten, und die Stunden bis dahin lagen wie eine halbe Ewigkeit vor ihm. Nur mühsam bezähmte er die Versuchung, Carole anzurufen. Nach einer ausgiebigen heißen Dusche zog er ein weißes Hemd und einen dunklen Anzug an und verknotete eine Hermès-Krawatte.
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