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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Das Personal hatte gesehen, wie Genia flüchtete und Pavlos mit erhobenen Fäusten hinter ihr herlief.
    »Man müßte ihn einsperren!« sagte Stavros empört. »Sehen wir einmal davon ab, daß Genia es nicht anders gewollt, daß sie diesen Pavlos aus freien Stücken geheiratet hat, was schon eine große Geschmacklosigkeit war – dann muß man ihr zugestehen: Verdient hat sie ein solches Schicksal nicht. Immerhin ist es eure Mutter! Sie sollte sich wieder scheiden lassen.«
    Ob Genia die gleichen Gedanken hegte – man weiß es nicht. Ob sie mit Pavlos über eine Trennung sprach – niemand war dabei. Sicher war nur, daß Pavlos Heraklion einer Scheidung nie zugestimmt hätte. Denn Genia zu verlieren, auf diese Art, das hätte eine Niederlage gegenüber Stavros Penopoulos bedeutet. Es war klar, daß Genia in Interviews auspacken würde, rücksichtslos: ›Die Befreiung einer geschlagenen Frau …‹ Das war etwas, das Heraklions männlichen Glanz sehr trüben konnte.
    Es war an einem frühen Morgen, vom Meer zogen die ersten Dunstschwaden zur Küste, zarte, weißliche Nebel, von der wasserziehenden, schon am Morgen sehr warmen Sonne gebildet, als der Gärtner der Heraklion-Villa, der auch die Fischreusen am Ufer der Privatinsel Lenosos kontrollierte, am Fuße der etwa dreißig Meter hohen Steilküste einen Körper entdeckte.
    Er lag im körnigen Ufersand, mit dem Gesicht nach unten, Arme und Beine ausgebreitet, als habe er weit gespreizt durch die Luft gleiten wollen. Es war eine Frau, der Gärtner sah es an den Haaren und an dem langen Hemd, das naß, vom Morgentau durchtränkt, an dem schmalen, zerbrechlichen Körper klebte.
    Mit entsetzlichem Herzklopfen rannte der Gärtner den Fußweg hinunter und drehte die Frau vorsichtig auf den Rücken. Sie sah fürchterlich aus. Der Gärtner würgte, wandte sich ab und brauchte ein paar Minuten, um seine Übelkeit zu bekämpfen. Dann zog er seine Jacke aus und warf sie, ohne hinzublicken, über die blutige Masse, die einmal ein Gesicht gewesen war.
    Zehn Minuten später glich die Insel Lenosos einem Tollhaus. Die weiblichen Angestellten kreischten und weinten, die Sekretäre telefonierten mit Ärzten und Polizei, zwei Hubschrauber stiegen auf, um die alarmierten Herren abzuholen und zur Insel zu fliegen, das männliche Personal sperrte den Uferstreifen ab und fuhr mit drei Booten vor der Küste Patrouille, ein Priester, der gerade bei Pavlos zu Gast war und für ein Kloster sammelte, ließ über der Hauskapelle die Glocken läuten und sprach die ersten Gebete.
    Pavlos Heraklion, elegant wie immer, aber etwas bleich und sichtlich unausgeschlafen, stand am Strand neben der mit dem Gärtnerrock zugedeckten Leiche und starrte sie wortlos an. Zu erklären gab es nichts. Er kannte das Hemd, er kannte den Körper, er kannte die Haare, die unter dem Rock hervorquollen, ein helles Blond mit eingefärbten Silbersträhnen. Da viele Augen ihn beobachteten, kniete er neben der Toten nieder, bekreuzigte sich, betete stumm und streichelte zaghaft über den verdeckten Kopf.
    »Es ist furchtbar«, sagte Pavlos zu dem Hausverwalter, der mit geröteten Augen respektvoll abseits stand. »Aber wir dürfen Madame nicht anrühren. Sie muß so liegenbleiben, bis der Arzt und die Polizei kommen. Nichts darf verändert werden. Und nichts darf in die Öffentlichkeit! Wer hätte aber auch gedacht, daß ihre Depressionen so verhängnisvolle Folgen haben könnten? Sie wissen doch, daß Madame Depressionen hatte?«
    Der Verwalter der Insel Lenosos nickte. Seine Kehle war zugeschnürt. Wie sie dalag, in ihrem nassen Hemd, das ihren schönen Körper kaum verbarg … Wie oft hatte er sie gesehen, wenn sie in der Bucht badete, im Bikini, oft auch ohne alles. Eine Aphrodite, trotz ihrer vierundvierzig Jahre. Stürzt sich vom Felsen hinunter! Eine der reichsten Frauen der Welt wirft ihr Leben weg. Wer kann das begreifen?
    Pavlos Heraklion erwartete den Arzt und die Beamten der Staatsanwaltschaft und Polizei in seinem großen Büro. Die Türen zum Park waren geöffnet, der Tag war heiß, das Meer dampfte. In der Privatkapelle stellte man den eingeflogenen Sarg auf. Der Priester saß neben der Toten, die noch auf einer Trage lag, und bat Gott um Nachsicht für diese arme Seele.
    Ruhig, den Kopf gesenkt, die Hände im Schoß gefaltet, hörte Heraklion den Bericht des Arztes an. Nach der ersten Untersuchung gab es keinen Zweifel, daß Genia Heraklion sich in einem Anfall von Depression von den Klippen gestürzt
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