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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin
Autoren: John Grisham
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Sobald der Verfasser gestorben und das Testament eröffnet ist, wird es zu den Behördenakten genommen. Ab dann ist es öffentlich einsehbar.« Jake sah sich um und zählte mindestens drei Männer, deren Testamente er aufgesetzt hatte – knapp, schnell und günstig. Es war stadtbekannt, dass er so arbeitete. Auf diese Weise kamen immer wieder neue Aufträge.
    »Wann wird denn ein Testament eröffnet?«, wollte Bill West wissen.
    »Da gibt es keine Vorschriften. Im Allgemeinen finden der Ehepartner oder die Kinder des Verstorbenen den Letzten Willen, bringen ihn zu einem Anwalt, und rund einen Monat nach der Beerdigung gehen sie damit zum Nachlassgericht.«
    »Und wenn es keinen Letzten Willen gibt?«
    »Der Traum jedes Anwalts«, sagte Jake lachend. »Chaos. Wenn Mr. Hubbard ohne Testament gestorben ist und ein paar Ex frauen, vielleicht ein paar erwachsene Kinder und dazu Enkel zurückgelassen hat, könnte es gut sein, dass sie sich die nächsten fünf Jahre um das Erbe streiten, vorausgesetzt, es ist genug da, worum man sich streiten kann.«
    »Oh, da ist genug da«, sagte Dell vom anderen Ende des Raums. Ihr entging nichts. Wenn man hustete, erkundigte sie sich nach der Gesundheit. Wenn man nieste, kam sie mit einem Taschentuch gelaufen. Wenn man ungewöhnlich still war, fragte s ie einen über Privatleben oder Job aus. Wenn man flüsterte, kam sie an den Tisch und füllte Becher oder Gläser auf, ganz gleich, wie voll die waren. Ihr entging nichts, sie merkte sich alles und erinnerte ihre Stammgäste oft noch Jahre später an Dinge, die sie einmal ganz anders gesagt hätten.
    Marshall Prather sah Jake an und verdrehte die Augen, als wollte er sagen: Die hat sie doch nicht alle. Doch er war klug genug zu schweigen. Stattdessen aß er seine Pfannkuchen auf und machte sich auf den Weg.
    Jake folgte ihm bald nach. Um 6.40 Uhr bezahlte er seine Rechnung und umarmte auf dem Weg nach draußen Dell, deren aufdringliches Parfüm ihm für einen kurzen Moment den Atem raubte. Der Himmel im Osten schimmerte rosa in der Dämmerung. Nach dem gestrigen Regen war die Luft klar und kühl. Wie immer ging Jake zunächst Richtung Osten, von seiner Kanzlei weg, mit energischen Schritten, als wäre er auf dem Weg zu einem wichtigen Termin. In Wahrheit hatte er keinen einzigen wichtigen Termin an diesem Tag. Es würden nur ein paar Leute bei ihm im Büro vorbeikommen, die seinen Rat suchten.
    Sein morgendlicher Spaziergang führte ihn einmal um den Clanton Square herum, vorbei an Banken und Versicherungs agenturen, an Immobilienmaklern, Läden und Cafés, die dicht nebeneinanderlagen. Um diese Zeit hatten sie alle noch geschlossen. Mit wenigen Ausnahmen waren die Häuser zweistö ckig. Ihre Klinkerfassaden waren unterbrochen von Balkonen mit schmiedeeisernen Geländern, die über das Trottoir ragten. Der Platz war quadratisch angelegt, ein Rasen in der Mitte, an einer Seite das Gerichtsgebäude. Clanton boomte zwar nicht gerade, starb aber auch nicht aus wie so viele andere Kleinstädte im Süden. Die Volkszählung von 1980 hatte etwas über achttausend Einwohner ergeben, ein Viertel der Bevölkerung des gesamten County. Es wurde damit gerechnet, dass die Zahlen bis zum nächsten Zensus leicht ansteigen würden. Es gab keine leer stehenden Ladenlokale, keine traurigen »Zu vermieten«-Schilder in den Schaufenstern. Jake stammte aus Karaway, einer kleinen Stadt mit zweitausendfünfhundert Einwohnern, knapp dreißig Kilometer von Clanton entfernt. Die Main Street dort starb nach und nach aus, je mehr Geschäfte und Cafés dichtmachten. Auch die Anwälte packten einer nach dem anderen ihre Sachen und zogen in die Hauptstadt des County. In Clanton gab es sechsundzwanzig Kanzleien, alle am Clanton Square, die Zahl stieg beständig, und die Konkurrenten begannen sich gegen seitig zu erdrücken. Jake fragte sich oft, wo das enden sollte.
    Er genoss es, an den anderen Kanzleien vorbeizugehen und auf ihre geschlossenen Türen und verwaisten Empfangsräume zu blicken. Es fühlte sich dann ein wenig an, als wäre er ihnen eine Runde voraus. Während die Konkurrenz noch schlief, war er längst bereit, es anzupacken. Er ging am Büro von Harry Rex Vonner vorbei, seinem vermutlich besten Freund unter den Kollegen, der selten vor neun Uhr kam und dann meist ein Wartezimmer voller gereizter Scheidungskandidaten vorfand. Harry Rex hatte mehrere Ehefrauen verschlissen und kannte sich mit stressigem Privatleben aus, deshalb arbeitete er lieber bis in
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