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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin
Autoren: John Grisham
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den späten Abend. Auch die verhasste Kanzlei von Sullivan passierte Jake, die die meisten Anwälte im County beschäftigte. Bei der letzten Zählung waren es neun gewesen. Neun Arschlöcher, denen Jake am liebsten aus dem Weg ging. Wobei das viel mit Neid zu tun hatte. Zu Sullivans Mandanten gehörten Banken und Versicherungen, und seine Mitarbeiter verdienten mehr als alle anderen Anwälte der Stadt zusammen. Als Nächstes kam das verriegelte Büro eines alten Freundes namens Mack Stafford, von dem seit eineinhalb Jahren niemand mehr etwas gehört oder gesehen hatte, nachdem er angeblich mitten in der Nacht verschwunden war, mitsamt dem Geld seiner Mandanten. Seine Frau und seine beiden Töchter warteten immer noch auf ihn, ebenso wie eine Anklage. Im Stillen hoffte Jake, dass Mack irgendwo am Strand lag, Rum-Cocktails trank und nie zurückkommen wollte. Er war in seiner Ehe sehr unglücklich gewesen. »Nicht aufgeben, Mack«, sagte Jake jeden Morgen und strich über das Vorhängeschloss, ohne seine Schritte zu verlangsamen.
    Er kam an den Büros der Ford County Times vorbei, beim Tea Shoppe, der sich allmählich mit Leben füllte, an einem Herrenausstatter, bei dem er im Ausverkauf seine Anzüge erstand, dem Café Claude’s, das einem Schwarzen gehörte und wo er sich freitags mit den anderen liberalen Weißen der Stadt zum Mit tagessen traf, einem Antiquitätenladen – der Inhaber war ein Ganove, den Jake schon zweimal verklagt hatte –, einer Bank, die noch immer die zweite Hypothek auf sein Haus zurückhielt, weswegen er einen langwierigen Prozess führte, und dem Verwaltungsgebäude des County, wo der neue Bezirksstaats anwalt saß, wenn er in der Stadt war. Dessen Vorgänger, Rufus Buckley, war letztes Jahr von den Wählern abgestraft worden und schien sich dauerhaft aus dem Amt zurückgezogen zu haben. Zumindest hofften das Jake und viele andere. Buckley und er waren sich im Hailey-Verfahren fast an die Kehle gesprungen, und Jakes Hass hatte sich seitdem keineswegs gelegt. Inzwischen war der Mann in seine Heimatstadt Smithfield in Polk County zurückgekehrt, wo er seine Wunden leckte und in seiner Kanzlei in der Main Street zwischen vielen anderen ums Überleben kämpfte.
    Damit war die Runde zu Ende, und Jake schloss die Tür zu seinem eigenen Büro auf, das als das schönste der ganzen Stadt galt. Wie viele andere Gebäude um den Platz herum war es vor hundert Jahren von der Wilbanks-Familie errichtet worden, und bis vor Kurzem hatte stets ein Wilbanks eine Kanzlei darin betrieben. Die Tradition wurde erst gebrochen, als Lucien, der letzte Wilbanks-Abkömmling und mit Sicherheit der verrückteste, seine Zulassung verlor. Gerade erst hatte er Jake eingestellt, frisch von der Uni und voller Ideale. Doch bevor Lucien ihn desillusionieren konnte, kam die Anwaltskammer und zog dessen Lizenz ein. Nachdem Lucien weg und kein weiterer Wilbanks in Sicht war, übernahm Jake die prachtvolle Kanzlei, von deren zehn Zimmern er gerade einmal die Hälfte nutzte. Es gab einen großzügigen Empfangsbereich, in dem die Sekretärin saß und die Mandanten begrüßte. Darüber hatte Jake sein Büro, einen über achtzig Quadratmeter großen Raum mit einem imposanten Eichenschreibtisch, an dem schon Lucien und dessen Vorfahren gesessen hatten. Wenn Jake sich langweilte, was öfter vorkam, ging er durch die Fenstertüren nach draußen auf den Balkon und genoss den großartigen Ausblick auf das Gerichtsgebäude und den Platz.
    Pünktlich um sieben Uhr saß er am Schreibtisch und trank Kaffee. Er blickte in seinen Kalender und musste sich eingestehen, dass der Tag nicht sonderlich vielversprechend aussah.

3
    Die aktuelle Sekretärin hieß Roxy, war dreißig und vierfache Mutter. Jake hatte sie nur eingestellt, weil er keine bessere fand. Als er vor fünf Monaten jemanden gesucht hatte, war er in einer Notlage gewesen. Für Roxy sprach, dass sie jeden Morgen um halb neun Uhr herum zur Arbeit erschien, meist ein paar Minuten später, und halbwegs passabel erledigte, was zu ihrer Job beschreibung gehörte: Anrufe entgegennehmen, Mandanten begrüßen, Schnorrer abwimmeln, tippen, Ablage machen, einen einigermaßen aufgeräumten Arbeitsplatz vorweisen. Gegen sie sprach – und da gab es schon wesentlich mehr zu sagen –, dass sie wenig Leistungsbereitschaft zeigte, ihre Arbeit nur als vorübergehende Lösung sah, bis sich etwas Besseres fand, auf der hinteren Terrasse rauchte und danach roch, dass sie über das Gehalt klagte
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