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Die Erbin

Die Erbin

Titel: Die Erbin
Autoren: John Grisham
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Anspruch nahm. Wieder Punktabzug.
    Ganz unten im Stapel, auf dem letzten normal großen Umschlag, der heute gekommen war, las er seinen Namen in blauer Tinte, handgeschrieben. Der Name des Absenders versetzte ihm so einen Schreck, dass ihm der Brief beinahe aus der Hand glitt. Er warf die übrige Post auf den Schreibtisch und hastete die Treppe hoch in sein Büro, verschloss die Tür, setzte sich an den Sekretär unter dem Porträt von William Faulkner, das Mr. John Wilbanks, Luciens Vater, gekauft hatte, und unter suchte den Umschlag. Es war ein handelsüblicher weißer Um schlag aus billigem Papier, vermutlich im Hunderterpack für fünf Dollar gekauft, und versehen mit einer 25-Cent-Briefmarke, die einem Astronauten gewidmet war. Dick, wie er war, enthielt er vermutlich mehrere Blätter. Er war an Jake persönlich gerichtet. »Jake Brigance, Rechtsanwalt, 146 Washington Street, Clanton, Mississippi.« Ohne Postleitzahl.
    Der Absender lautete: »Seth Hubbard, Postfach 277, Palmyra, Mississippi, 38664.«
    Der Umschlag trug den Poststempel des Postamtes von Clanton vom 1. Oktober 1988, dem vergangenen Samstag. Jake atmete tief durch und ging in Gedanken das Szenario durch. Wenn die Coffee-Shop-Gerüchteküche recht hatte – und es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, zumindest im Moment nicht –, dann hatte sich Seth Hubbard am Sonntagnachmittag, also vor weniger als vierundzwanzig Stunden, erhängt. Es war jetzt 8.45 Uhr am Montagmorgen. Dem Poststempel nach musste Hubbard – oder jemand, der in seinem Auftrag handelte – den Brief entweder Freitagabend oder Samstagvormittag in den regionalen Postkasten geworfen haben. Nur regionale Post wurde in Clanton abgestempelt, alles andere wurde nach Tupelo in ein Verteilerzentrum gefahren, dort sortiert, gestempelt und weiter geleitet.
    Jake nahm eine Schere und schnitt vorsichtig einen dünnen Streifen vom Rand des Umschlags ab, gegenüber vom Absender, nahe an der Briefmarke, jedoch ohne etwas zu zerstören. Möglicherweise hielt er hier ein Beweismittel in der Hand. Auf jeden Fall würde er später von allem Kopien machen. Er drückte die Kanten vorsichtig zusammen und schüttelte den Umschlag, bis mehrere gefaltete Blätter herausfielen. Sein Herz schlug schneller, während er sie behutsam aufklappte. Es waren drei, alle weiß, ohne Briefkopf. Er glättete die Falten und legte die Blätter flach auf den Tisch, dann nahm er das oberste. In blauer Tinte und einer für einen Mann bemerkenswert sorgfältigen Handschrift stand da:
    Sehr geehrter Mr. Brigance,
    meines Wissens sind wir uns nie begegnet, und dazu wird es auch nicht mehr kommen. Wenn Sie diese Zeilen lesen, werde ich tot sein, und in dieser schrecklichen Stadt, in der Sie leben, wird wieder einmal die Gerüchteküche brodeln. Ich werde mir das Leben nehmen, weil ich ohnehin bald an Lungenkrebs sterben würde. Die Ärzte haben mir nur noch wenige Wochen gegeben. Ich kann die Schmerzen und vieles andere auch nicht mehr ertragen.
    Falls Sie rauchen, hören Sie auf den Rat eines Toten: Hören Sie sofort damit auf.
    Ich habe Sie ausgewählt, weil Sie erstens den Ruf haben, aufrichtig zu sein, und ich zweitens Ihren Mut in dem Prozess um Carl Lee Hailey bewundert habe. Ich halte Sie für einen toleranten Menschen, und davon gibt es in diesem Teil der Welt leider viel zu wenige.
    Ich verachte Anwälte, besonders die in Clanton. Ich will keine Namen nennen, warum auch, so kurz vor dem Ende meines Lebens, aber ich werde einen tiefen Groll gegen einige Vertreter Ihrer Zunft mit ins Grab nehmen. Alles Blutsauger.
    Anbei finden Sie meinen Letzten Willen, vollständig von meiner Hand verfasst, datiert und unterschrieben. Ich habe mir die rechtlichen Vorschriften des Staates Mississippi angesehen und erleichtert festgestellt, dass dieser Letzte Wille als eigenhändiges Testament vor dem Gesetz uneingeschränkt Bestand haben wird. Meine Unterschrift wurde von niemandem bezeugt, aber, wie Sie wissen, sind Zeugen für ein eigenhändiges Testament nicht erforderlich. Vor einem Jahr habe ich in den Räumen der Kanzlei Rush in Tupelo ein ausführlicheres Testament unterzeichnet, das ich jedoch widerrufe.
    Das neue Testament wird mit Gewissheit einigen Ärger provozieren, deshalb habe ich Sie ausgewählt, um meinen Nachlass rechtlich zu vertreten. Ich will, dass diesem Testament um jeden Preis Geltung verschafft wird, und ich weiß, dass Ihnen das gelingen wird. Ich möchte insbesondere meine beiden erwachsenen Kinder,
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