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Die Erben

Die Erben

Titel: Die Erben
Autoren: William Golding
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aufrechten Leichnam des Baumes beherrscht wurde. Efeu hatte das Baumskelett überwachsen, die tief eingebetteten Stränge bildeten einen Wirrwarr von Adern auf dem toten Stamm und endeten, wo sich dieser zu einem Horst aus dunkelgrünen Blättern ausweitete. Auch die Schwämme wucherten üppig, große abstehende Scheiben, Ohren, in denen das Regenwasser stand, und kleinere gallertartige Klümpchen aus Rot und Gelb, so daß sich der alte Baum zu Staub und weißem Brei aufzulösen schien. Nil suchte Nahrung für Liku, und Lok fingerte nach den weißen Maden. Mal wartete auf sie. Er zitterte jetzt nicht mehr ununterbrochen, aber ab und zu schüttelte es ihn. Danach stützte er sich jedesmal auf seinen Dornenast, als wollte er daran hinuntergleiten. Ein neues Erlebnis war jetzt den Sinnen gegenwärtig, ein Geräusch so stet und durchdringend, daß die Gefährten einander nicht an seinen Ursprung zu erinnern brauchten. Jenseits der Lichtung begann der Hang steil anzusteigen, der Erdboden lag frei, nur hier und da standen kleinere Bäume wie hingestellt; und jetzt trat das Knochengerüst des Landes zutage, Klumpen glatten, grauen Felsgesteins. Hinter diesem Anstieg zog sich der Spalt durch die Berge, und vom Ausguß dieses Spalts stürzte der Fluß in einem Wasserfall herab, der zweimal so hoch war wie der höchste Baum. Jetzt da sie schwiegen, erfüllte sie ganz das ferne Tosen des Wassers. Sie sahen einander an und begannen zu lachen und zu schnattern. Lok sprach zu Liku.
    »Heute Nacht schläfst du, wo das Wasser fällt. Es ist nicht fortgegangen. Weißt du noch?« »Ich sehe ein Bild von dem Wasser und von der Höhle.« Lok tätschelte den toten Stamm, und Mal führte sie den Hang hinauf. Bei all ihrer Freude dachten sie jetzt auch an seine Erschöpfung, obgleich sie noch nicht ahnten, wie sehr sie von ihm Besitz ergriffen hatte. Mal hob die Beine wie einer, der durch Morast geht, und seine Füße waren nicht mehr geschickt. Sie tappten eigenmächtig und unbeholfen, und es war, als würden sie zur Seite gezogen, so daß er an seinem Stock dahinschwankte. Sie folgten hinter ihm jeder seiner Bewegungen, mühelos aus der Fülle ihrer gesunden Kraft heraus. Ganz in sein schweres Mühen versunken verfielen sie in eine liebevoll-mitempfindende, unbewußte Parodie. Stütze er sich auf und rang nach Atem, keuchten sie ebenfalls, und sie taumelten und ihre Füße waren absichtlich ungeschickt. Der Steig wand sich zwischen verstreut liegenden Felsblöcken aufwärts, bis die Bäume zurückblieben und sie im Freien waren. Hier blieb Mal stehen und hustete, und sie wurden gewahr, daß sie nun auf ihn warten mußten. »Da!«
    Der Hang führte zur Schlucht hinauf, und der Berg ragte vor ihnen in die Höhe. Linker Hand war der Hang jäh zu Ende und fiel über eine Klippe zum Fluß ab. Eine Insel war in dem Fluß, die nach oben anstieg, als ob ihr hinterster Teil aufrecht an den Wasserfall angelehnt worden wäre. Der Fluß stürzte zu beiden Seiten der Insel hinab, auf der nähergelegenen nur in schmaler, dünner Bahn, aber breit und donnernd auf der anderen; und Gischt und Sprühnebel verbargen dem Auge die Stelle, an der er auftraf. Bäume und dichtes Gebüsch gab es auf der Insel, aber nach dem Wasserfall hin schob sich milchiger Dunst davor, und der Fluß zu beiden Seiten erstrahlte nur in trübem Glanz.
    Mal schritt wieder weiter. Zwei Wege führten zur Schwelle des Wasserfalls; der eine kletterte im Zickzack über Felsen den Hang hinan. Obgleich dieser Weg für Mal weniger mühsam gewesen wäre, wählte er den Pfad zur Linken, als wollte er vor allem möglichst schnell den Ort der Ruhe und Sicherheit erreichen. Jetzt begleiteten sie kleine Büsche den Rand der Klippe entlang, und während sie daran vorüberzogen, sagte Liku wieder zu Lok: »Ich habe Hunger.«
    Das Lärmen des Wasserfalls nahm ihren Worten die Kraft, so daß Lok sie nur ganz schwach hörte. Er schlug sich an die Brust und rief, daß alle ihn verstanden.
    »Ich sehe ein Bild. Ich sehe, wie Lok einen Baum findet mit Ohren, die dick wachsen –« »Iß, Liku.«
    Ha trat mit Beeren in der Hand zu ihnen. Er gab sie Liku, und sie aß und vergrub ihren Mund in der Nahrung; und die kleine Oa mußte sich unter den Arm stecken lassen. Die essende Liku gemahnte Lok an seinen eigenen Hunger. Die feuchte Winterhöhle am Meer und die bittere, unnatürlich schmeckende Nahrung, welche Küste und salzige Marsch boten – das alles lag nun hinter ihnen, und er sah plötzlich ein
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