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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst
Autoren: Uwe Timm
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Kribbeln auf der Zunge, der Gaumen schien sich zu weiten, genau, das war es, was so schwer beschreibbar ist, mit bitter oder süß und schon gar nicht mit scharf, nein, der Gaumen wölbte sich, machte sich und die Zunge spürbar, ein Erstaunen, etwas, das sich auf sich selbst, auf das Schmecken richtete. Ali Baba und die vierzig Räuber, Rose von Stambul, das Paradies. Den Abend über experimentierte sie, nahm kleine Proben von dem Matsch am Boden, tat etwas Pfefferminze und etwas wilden Majoran hinzu, was beides nicht so gut schmeckte, versuchte es mit etwas Vanille, was gut war, mit etwas schwarzem Pfeffer, den ihr Holzinger damals gegeben hatte, etwas von dem Rest Muskatnuß, die sie für Bremers Kartoffelbrei organisiert hatte, und etwas Anis. Sie schmeckte diesen rotbraunen Matsch ab: Genau das war die Abrundung. Dafür gab es keine Worte. Und weil sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, schnipselte sie sich eine von den hautlosen Kalbsbratwürsten in die Pfanne, briet sie mit dem Currymatsch. Und was sonst nur dröge und labberig schmeckte, war fruchtigfeucht mit diesem fernen, unbeschreibbaren Geschmack. Sie saß und aß mit Genuß die erste Currywurst. Nebenher schrieb sie auf einem aus einer alten Illustrierten herausgerissenen Zettel das Rezept auf, notierte sich die Gewürze, die auf der Dose angegeben waren, auch ihre Zusätze: Ketchup, Vanille, Muskat, Anis, schwarzer Pfeffer und frische Senfkörner, die eigentlich für einen Wadenwickel gedacht waren.
    Am nächsten Morgen, einem naßkalten Dezembertag, grau in grau, kamen die ersten Kunden an die neueröffnete Imbißbude von Frau Brücker, zuerst die Nutten aus dem Billigpuff der Brahmsstraße, übernächtigt, geschafft, fix und fertig. Was hatten sie aber auch alles über sich ergehen lassen müssen. Es gab nichts, was es nicht gab. Sie hatten einen verdammt faden Geschmack im Mund und wollten jetzt etwas Warmes, auch wenn es happig teuer war, ne echte Tasse Bohne und ne Bockwurst oder ne Bratwurst, was es eben gab. Aber heute gab es weder Bockwurst noch Bratwurst, heute gab es nur verschrumpelte Bratwürste. Sahn aus wie n Witz. Die wurden auch noch kleingeschnitten, überschmiert mit so ner gräßlichen roten Soße, nein, einem rotbraunen Brei. Scheußlich, sagte Moni, aber dann, nach dem ersten Bissen, ein Schmecken, daß sie sich wieder spürte. Mann inner Tonne, sagte Moni. Das Grau hellte sich auf. Die Morgenkälte wurde erträglich. Es wurde ihr richtig warm, die lastende Stille laut, ja, sagte Lisa, det macht Musike, jenau. Lisa, die seit drei Monaten in Hamburg arbeitete, sagte: Det isset, wat da Mensch braucht, det is eenfach schaaf.
    Damit begann der Siegeszug der Currywurst, ging aus vom Großneumarkt, kam zu einer Bude auf der Reeperbahn, dann nach St. Georg, dann und erst dann mit der Lisa nach Berlin, wo Lisa einen Stand an der Kantstraße aufmachte, kam nach Kiel, Köln, Münster, nach Frankfurt, machte aber sonderbarerweise halt am Main, dort behauptete die Weißwurst ihr Gebiet, die Currywurst kam dafür nach Finnland, nach Dänemark, sogar nach Norwegen. Die südlichen Länder hingegen erwiesen sich als resistent, allzusehr, da hat Frau Brücker recht, gehört ein in Bäumen und Büschen westernder Wind dazu. Ihre Herkunft hängt mit dem Grau zusammen, dessen Gegensatz im Schmecken das Rotbraun ist. Resistent erwiesen sich auch die oberen Gesellschaftskreise, keiner der Perrier-Jungs, keine der Boutiquentussis essen sie, denn man muß sie im Stehen essen, so zwischen Sonne und Regenschauer, zusammen mit einem Rentner, einem ausgeflippten Mädchen, einem nach Pisse stinkenden Penner, der einem seine Lebensgeschichte erzählt, einem King Lear, so steht man und hört eine unglaubliche Geschichte, mit diesem Geschmack auf der Zunge, wie die Zeit damals war, aus der die Currywurst kam: Trümmer und Neubeginn, süßlichscharfe Anarchie.
    So stand eines Tages auch Bremer an dem Imbißstand. Er war von Braunschweig nach Hamburg gekommen, war zur Brüderstraße gegangen, hatte hochgeblickt zu dem Fenster, hatte sich gesagt, schön wäre es, wenn er noch immer da oben säße, nicht als Vertreter reisen müßte für Scheiben und Fensterkitt. Er hatte überlegt, ob er hinaufgehen und klingeln sollte. Aber er ging dann doch weiter und durch die Straßen, die er nicht kannte, obwohl er in dem Viertel fast vier Wochen gewohnt hatte. Er kam zum Großneumarkt, sah den Imbißstand, wollte etwas essen, und da sah er sie. Er erkannte sie nicht
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