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Die Entdeckung der Currywurst

Die Entdeckung der Currywurst

Titel: Die Entdeckung der Currywurst
Autoren: Uwe Timm
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gezogen. Grauenvoll. Mein Gott, dachte sie, ich war verrückt. Wo hatte ich meine fünf Sinne? Was soll ich mit dem Zeug? Wer nimmt mir das ab? Das war nur mit Verlust zu tauschen. Ich hatte das Reiterabzeichen, mal abgesehen vom Whisky, den Zigaretten und dem Ketchup, gegen etwas Ungenießbares eingetauscht. Hätte ich doch den Fehmantel behalten.
    Der Tommy half ihr, die Kisten mit dem Ketchup rauf zutragen, bis zur zweiten Etage, wo jedesmal das Licht ausging, dann tappten sie weiter, und da passierte es, ausgerechnet sie, Lena Brücker, die Hunderte, Tausende von Malen die Treppen rauf- und runtergelaufen war, die ohne zu zögern, auch blind, weitergehen konnte, weil sie jeden Schritt, jede Unebenheit der Treppe kannte, stolperte, stolperte, weil sie an das Currypulver dachte, an diese Dose, die sie auf dem Karton mit den Ketchupflaschen trug, tatsächlich aber dachte sie an Bremer, dachte daran, wie sie hier hinaufgegangen waren, vor gut zwei Jahren, dachte daran, wie sie da oben siebenundzwanzig Tage gelebt hatten, in schöner Eintracht, bis zu diesem Streit, bis er sich an der Türklinke die Hand blutiggeschlagen hatte, bis sie diese schrecklichen Fotos gesehen hatte, bis er weggegangen war, im Anzug ihres Mannes, einfach verschwunden, so wie nur Männer verschwinden können, und jedesmal wieder schoß ihr die Scham in den Kopf, wenn sie daran dachte, was er wohl über sie gedacht hatte, als er nach den vier Wochen durch die Stadt wie durch eine andere Welt gegangen war. Sie hatte immer gehofft, er würde sich einmal melden, damit sie alles hätte erklären können. Aber sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört, und da war sie auf der dunklen Treppe ins Stolpern gekommen. Klatsch. Drei Flaschen Ketchup waren kaputt. Sie machte oben Licht, schloß die Tür auf. Ein roter Matsch. Und in dem Matsch auch noch das Currypulver aus der Dose, die sie im Auto aufgemacht hatte, um an dem Curry zu lecken. Und da setzte sie sich auf die Treppe und begann zu heulen, konnte dem Tommy, der sie zu trösten versuchte, nicht erklären, daß es nicht die drei kaputten Ketchupflaschen waren und auch nicht das Currypulver, das verschüttet war, auch nicht, daß ihr das Zeug nicht schmeckte, daß sie glaubte, den denkbar schlechtesten Tausch ihres Lebens gemacht zu haben, schon gar nicht, daß sie an Bremer dachte, der einfach gegangen war, an ihren Mann, den sie rausgeschmissen hatte, und daß ihr Haar inzwischen eine graue Strähne hatte, bald aber ganz grau sein würde, daß alles in den letzten Jahren irgendwie vorbeigegangen war, fast unmerklich, einmal abgesehen von den Tagen mit Bremer. Der Tommy bot ihr eine Zigarette an, und so saßen sie, als das Licht ausging, im Treppenhaus nebeneinander auf den Stufen, saßen im Dunklen und rauchten, ohne etwas zu sagen.
    Dann, als sie die Zigarette, schon die zweite an diesem Tag, ausgeraucht hatte, drückte sie die auf der metallenen Scheuerleiste der Treppe aus, ging die paar Stufen nach oben, machte das Licht an. Der Tommy brachte ihr die anderen Sachen hoch, hob die Hand, sagte: Good luck. Bye bye, ging hinunter. Sie wartete am Schalter, damit das Licht nicht ausging, bis sie unten die Tür ins Schloß fallen hörte. Sie nahm den Karton mit den heilen und den drei kaputten Flaschen hoch und trug sie in die Küche. Glücklicherweise waren die Flaschen nicht so kleingesplittert, daß man den rotbraunen Matsch hätte wegkippen können. Sie fischte die Scherben aus dem Ketchup. Aber das Ketchup war verdorben, es war mit dem Currypulver vermischt. Sie holte den Abfalleimer, wollte es wegschmeißen, da leckte sie gedankenverloren an den verschmierten Fingern – leckte nochmals, hellwach, und nochmals, das schmeckte, das schmeckt, so, daß sie lachen mußte, scharf, aber nicht nur scharf, etwas Fruchtig-feuchtscharfes, lachte über dieses Mißgeschick, diesen schönen Zufall, lachte über den schönen Fehmantel, den jetzt die schöne rotblonde Frau des Intendanturrats trug, freute sich, daß sie sich den Mann länger hier in der Wohnung gehalten hatte, lachte lauthals darüber, wie sie ihren Mann hinausgesetzt und dann die Tür hinter ihm zugeschlagen hatte. Sie stellte die Pfanne auf das Gas und schüttete den vom Boden zusammengeschobenen Curry samt Ketchup hinein. Da, langsam, erfüllte sich die Küche mit einem Duft, einem Duft wie aus Tausendundeiner Nacht. Sie probierte von diesem warmen rötlichbraunen Matsch und schmeckte, das schmeckte, ja, wie schmeckte das? Es war ein
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