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Die Enklave

Die Enklave

Titel: Die Enklave
Autoren: Michael Ann; Pfingstl Aguirre
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sehen, ob ich die Wahrheit gesagt hatte. »Okay, dann lasst uns hier verschwindn. Wir solltn hier nicht bleibn.«
    Auf allen vieren kletterte ich, so gut es ging, die Böschung
hinauf. Sie war ziemlich steil und hatte oben einen beträchtlichen Überhang, was auch der Grund war, warum wir diesen Fleck als Rastplatz ausgewählt hatten. Der Mann streckte mir eine Hand entgegen und half mir. Als ich vor ihm stand, konnte ich sehen, dass er größer war als Bleich – und alt , aber nicht so wie Dreifuß. Er war auf andere Weise gealtert, so, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Schultern hingen herab, und er trug etwas auf dem Kopf, unter dem sein silbriges Haar hervorschaute. In stummem Erstaunen schaute ich ihn an.
    »Ihr seid ziemlich weit weg von der Handelsroute. Hat’s euch von Appleton hierher verschlagn?«
    Hätte mir mein Erstaunen nicht die Stimme geraubt, hätte ich vielleicht etwas Vernünftiges antworten können; stattdessen stand ich nur da, die eine Hand auf meine Wunde gepresst, die andere am Griff meines Dolches, nur zur Sicherheit. Inzwischen war Pirscher hinter mir heraufgekommen, und auch er blieb wie angewurzelt stehen, hatte sich aber noch gut genug im Griff, um zu antworten: »Wir kommen aus der Stadt.«
    Der Mann runzelte die Stirn. »Wollt ihr mich auf den Arm nehm’? Niemand lebt mehr da.«
    Unser Retter sprach die Worte mit der gleichen Überzeugung, mit der ich einst nachgeplappert hatte, was die Ältesten uns erzählten, aber er lag genauso falsch wie ich. Seine Sippe wusste nichts von der unseren, und es war nicht der geeignete Moment, um mit ihm zu streiten oder zu versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass Pirscher die Wahrheit sagte.
    »Um Tegan steht es ziemlich übel«, sagte ich schließlich. »Sie haben ihr das Bein aufgeschlitzt.«

    »Ne unliebsame Begegnung mit den Stummies gehabt, wie? Kein Wunder, so weit draußn. Ohne mein Altes Mädchen geh ich nirgendwohin.« Er hielt ein langes, schwarzes Ding hoch, das ich sofort als Waffe erkannte, noch bevor er einen Hebel daran betätigte und es klicken ließ. »Ich bin Karl. Aber alle nenn’ mich Draufgänger.«
    »Warum?«, fragte Pirscher.
    »Weil ich oft zu den andren Handelsposten fahr und sie jedes Mal glaubn, dass ich dabei draufgeh. Seit beinah zwanzig Jahren mach ich das jetzt schon.«
    Das war unmöglich. Unten und in den Ruinen lebten die Menschen gerade mal zwanzig Jahre, und daran, über diesen ganzen Zeitraum auch noch derselben Aufgabe nachzugehen, war überhaupt nicht zu denken.
    »Wie alt bist du?«, fragte ich.
    Ich wusste, die Frage war nicht gerade höflich, aber die Antwort war wichtig: Allein die Tatsache, dass dieser Mann hier vor mir stand, erschütterte mein Bild von der Welt, schlug es zum x-ten Mal in Scherben, um es wieder neu entstehen zu lassen.
    »Zweiun’vierzig.«
    Dieser Mann musste von einem Ort kommen, wo das Leben besser war, wo die Menschen nicht so schnell verfielen und jung starben. Ich wollte dorthin, unbedingt. Vielleicht war es noch nicht zu spät für mich, obwohl ich schon so lange unter der Erde gelebt hatte. Vielleicht war es für uns alle noch nicht zu spät. Daran hielt ich mich fest, mit verbissener Verzückung.
    »Das glaub ich nicht«, sagte Pirscher.
    Aber der alte Mann hatte ihn nicht gehört. »Wolln mal
sehn, wie wir eure Freundin hier raufbekomm’. Ich kann die Maultiere nicht zu lang allein lassn.«
    »Ich trage sie«, sagte Bleich.
    Pirscher kletterte wieder hinunter, um ihm zu helfen. Ich wartete oben. Mehr, als mich selbst die Böschung hinaufzuschleppen, konnte ich mit der brennenden Wunde in meiner Seite nicht tun, und ich wollte nicht mehr Schwäche zeigen als unbedingt nötig. Seide mochte diesen Kerl geschickt haben – oder vielleicht auch nicht. Bleich und Pirscher sammelten unser Zeug ein, machten das Feuer aus und kamen mit Tegan die Böschung herauf. Als der alte Mann sie sah, zuckte er zusammen.
    »Das is Fieber!«, sagte er und machte mehrere Schritte zurück. »Hat sie die Seuche?«
    Ich schüttelte den Kopf, obwohl er es in der Dunkelheit wahrscheinlich gar nicht sehen konnte. »Nein. Ich schwöre es. Sie ist verletzt. Ich zeig’s dir.« Ich hob Tegans Bein ein Stück an, damit er die verbrannte Wunde sehen konnte.
    »’n bisschen Notfallmedizin, wie? Tapfer von euch. Aber das Bein sieht bös aus, und Erlösung is ’ne Tagesreise weit entfernt. Machen wir uns bereit zum Aufbruch.«
    Er führte uns zurück zur Straße, und ich fiel ein wenig hinter
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