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Die Enklave

Die Enklave

Titel: Die Enklave
Autoren: Michael Ann; Pfingstl Aguirre
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den anderen zurück, weil mir das Laufen ungeheure Schmerzen bereitete. Es war weiter, als es ausgesehen hatte, und als wir ankamen, keuchte ich bereits. Er hatte einen Planwagen. Ich hatte schon einmal kleinere gesehen, die meisten rot und rostig, aber dieser hier war riesig, und Draufgänger hatte zwei Tiere daran festgebunden. Hatte er sie nicht »Maultiere« genannt? Zumindest sahen sie friedlich aus, während wir näher herangingen.

    »Ich hab jede Menge Zeug da hintn drin, zum Eintauschen. Ihr werdet eng zusammenrückn müssn. Einer kann vorn nebn mir sitzn.«
    »Ich«, sagte Pirscher und sprang auf die Sitzbank.
    Der alte Mann hatte nicht übertrieben, als er gesagt hatte, es würde eng werden. Ich kletterte als Erste hinein, und wieder musste ich einen Schmerzensschrei unterdrücken, dann half ich Bleich, Tegan hineinzuheben. Überall waren Kisten und Säcke, und wir hatten Glück, dass ein paar davon nachgaben, wenn man sich dagegenlehnte, und nicht alle hart und kantig waren.
    »Bereit?«, rief der Mann.
    »Bereit«, erwiderte ich.
    Mit einem »Yepp!« zog er an den Bändern, die an den Maultieren befestigt waren, und der Wagen setzte sich ruckelnd in Bewegung. Nachdem ich eine Ecke gefunden hatte, in der ich es mir einigermaßen bequem machen konnte, ließ es sich ganz gut aushalten. Tegan lag quer über meinem und Bleichs Schoß, und ab und zu gab ich ihr etwas Wasser zu trinken. Sie war mittlerweile zu schwach, um selbst zu schlucken, und ich musste ihren Hals reiben, damit sie es nicht wieder ausspuckte.
    Es tat weh, sie anzusehen. Auch ich wurde von Fieberschüben gebeutelt; im einen Moment hatte ich noch das Gefühl, ich würde verbrennen, und schon im nächsten war mir wieder eiskalt. Bleich legte einen Arm um mich, und ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Ich dachte nicht mehr über die Zukunft nach, wir konnten ohnehin nichts daran ändern. Wir hatten alles für diesen Marsch gegeben, und noch ein bisschen mehr.

    »Du hast gewusst, dass jemand kommen würde«, flüsterte Bleich. »Oder?«
    »Ja, mehr oder weniger.«
    »Woher?«
    Ich war zu erledigt, um mir darüber Sorgen zu machen, ob er mir glaubte oder nicht. »Seide hat’s mir gesagt.«
    Bleich erwiderte nichts. Entweder war er beunruhigt über meinen Geisteszustand, oder er fragte sich, was genau ich damit meinte. Mir war es egal. Ich fiel in tiefen Schlaf, erfüllt von geflüsterten Worten, als würde jemand durch einen Wasserfall zu mir sprechen. Verlass mich nicht, Zwei. Ich brauche dich. Ich will, dass alles wieder so wird, wie es war, bevor die anderen dazugekommen sind. Ich hatte nie Gelegenheit, es dir zu sagen . Es klang wie Bleichs Stimme, aber er würde so etwas nie sagen. Mir nie so direkt seine Gefühle zeigen. Hatte er gerade gesagt …
    Ich liebe dich?
    Es musste ein Traum sein. Das Nächste, was ich wahrnahm, war gleißendes Sonnenlicht hinter meinen Augenlidern. Mein ganzer Körper war steif und tat weh, meine Beine waren unter Tegans Gewicht eingeschlafen, und ich spürte sie nicht mehr.
    Panisch beugte ich mich nach vorn und betastete sie, bis Bleich mir eine Hand auf die Schulter legte. »Schon gut. Sie hält durch.«
    »Sind wir bald da?«
    »Ich glaube, ja.«
    Ich keuchte leise vor Erleichterung. »Könntest du mir einen Gefallen tun?«
    »Wenn es in meiner Macht steht«, sagte er und lächelte dabei beinahe.

    »Liest du mir das Ende der Geschichte vor?«
    Bleich fragte nicht, warum. Er griff einfach in seinen Beutel, wühlte nach dem Buch und schlug es an der Stelle auf, bis zu der wir gekommen waren, bevor Pirscher und Tegan zwischen uns gerieten und seine Trauer mir den Zugang zu ihm versperrte wie eine eiserne Tür. Leise begann er zu lesen:
    Sie wurden noch am selben Tag vermählt, und am nächsten Tag gingen sie zum König und erzählten ihm die ganze Geschichte. Und wen fanden sie am Hofe? Photogens Vater und Mutter, die beide bei König und Königin in höchster Gunst standen. Aurora kam beinahe um vor Freude, und sie erzählte ihnen allen, wie Watho sie belogen und ihr weisgemacht hatte, ihr Kind sei tot.
    Niemand wusste etwas über Nycteris’ Vater und Mutter, aber als Aurora an dem schönen Mädchen ihre eigenen azurblauen Augen sah, wie sie selbst durch die dunkle Nacht und ihre Wolken hindurchleuchteten, gab ihr das seltsame Gedanken ein, und sie fragte sich, ob nicht selbst die Bösen dazu bestimmt waren, das Gute zusammenzubringen. Durch Watho hatten die Mütter, die einander nie gesehen hatten, in
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