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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin
Autoren: Tracy Chevalier
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Frieden hatte Honor schon oft gefunden, doch zu der wahren Tiefe des Inneren Lichts, diesem Gefühl, dass Gott in ihr und mit ihr war, ließ sich nicht so leicht vordringen. Dass sie es mitten in den Wäldern Ohios auf einem Wagen, der sie in Richtung Westen brachte, finden würde, während ein alter Mann neben ihr Kirchenlieder brummte, hielt Honor für sehr unwahrscheinlich.
    Doch plötzlich spürte sie eine Präsenz. Sie war nicht allein. Natürlich saß Thomas neben ihr, aber da war noch etwas anderes: Es kam ihr vor wie ein Schwirren in der Luft und gab ihr die Gewissheit, dass sie auf ihrer Reise ins tiefste Ohio begleitet wurde. Noch nie hatte Honor es so deutlich gespürt. Bislang hatte sie in Andachten immer geschwiegen, nun wollte sie zum ersten Mal im Leben ihre Gefühle in Worte fassen und Zeugnis ablegen.
    Sie öffnete den Mund – und da hörte sie es. Von weit hinter ihnen näherte sich ein scharrendes Geräusch, das schon im nächsten Moment zu einzelnen schnellen Hufschlägen auseinanderfiel.
    Â»Es kommt jemand«, sagte Honor. Es waren die ersten Worte, die sie an diesem Tag an Thomas richtete, und nicht das, was sie eigentlich sagen wollte. Thomas wirkte nicht besonders beeindruckt. Er drehte sich um und lauschte, aber dann hörte er es auch. Auf der Stelle war er hellwach; Konzentration stand in seinen Augen und noch etwas, das Honor nicht entschlüsseln konnte. Thomas blickte sie an, als wolle er ihr etwas mitteilen, ohne es auszusprechen, aber sie wusste nicht, was.
    Sie wandte den Blick von ihm ab und schaute hinter sich. Auf der Straße war ein Punkt erschienen.
    Thomas stampfte dreimal mit dem Fuß auf. »Erzählen Sie mir von Ihrer Schwester«, sagte er.
    Â»Wie bitte?«
    Â»Erzählen Sie mir von Ihrer Schwester. Von der, die gestorben ist. Wie hieß sie?«
    Honor runzelte die Stirn. Sie wollte nicht über ihre Schwester reden, nicht jetzt, wo jemand hinter ihnen herkam und eine neue Spannung in der Luft lag. Aber da Thomas ihr bislang kaum Fragen gestellt hatte, kam sie seiner Bitte nach. »Grace. Sie war zwei Jahre älter als ich.«
    Â»Und sie wollte einen Mann aus Faithwell heiraten?«
    Mittlerweile ließ sich das Geräusch deutlicher einordnen: ein einzelnes Pferd, das im Galopp geritten wurde, mit schweren Eisen, die dumpf auf den Boden aufschlugen. Honor hatte Mühe, sich nicht davon ablenken zu lassen. »Er … er ist Engländer. Adam Cox. Aus unserem Dorf. Er ist nach Ohio ausgewandert, um im Geschäft seines Bruders in Oberlin mitzuarbeiten.«
    Â»Was für ein Geschäft?«
    Â»Ein Tuchladen.«
    Als Thomas sie verwirrt anblickte, fiel Honor der Brief von Adam ein. »Kurzwaren.«
    Thomas’ Miene hellte sich auf. »Cox’ Kurzwarenladen? Den kenne ich. In der Main Street, südlich vom College. Einem der beiden Besitzer ging es ziemlich schlecht.« Wieder stampfte er dreimal mit dem Fuß auf.
    Honor schaute noch einmal hinter sich. Jetzt waren Ross und Reiter deutlicher zu sehen: ein Mann auf einem Fuchs.
    Â»Und warum sind Sie mit Ihrer Schwester gekommen?«
    Â»Ich …« Honor konnte nicht antworten. Über die Sache mit Samuel wollte sie nun wirklich nicht mit einem Fremden reden.
    Â»Was wollen Sie jetzt ohne sie machen?«
    Â»Ich … ich weiß es nicht.« Thomas fragte unbarmherzig und direkt. Mit seiner letzten Frage hatte er einen besonders wunden Punkt getroffen, als hätte er mit einer spitzen Nadel in eine Eiterblase gestoßen. Die Blase platzte auf, und Honor begann zu weinen.
    Thomas nickte. »Bitte verzeihen Sie mir, Miss«, flüsterte er, »aber vielleicht brauchen wir Ihre Tränen noch.«
    In dem Moment hatte der Reiter sie eingeholt und tauchte neben dem Wagen auf. Thomas brachte die graue Stute zum Stehen. Der Hengst des Reiters wieherte sie an, doch die Stute stand völlig ungerührt da und zeigte keinerlei Interesse an ihrem Artgenossen.
    Honor wischte sich die Augen und warf einen schnellen Blick auf den Mann, bevor sie die Hände im Schoß verschränkte und den Blick senkte. Obwohl der Fremde auf einem Pferd saß, war klar, dass er sehr groß sein musste. Er hatte die ledrig gebräunte Haut eines Mannes, der sein Leben draußen an der frischen Luft verbrachte. Hellbraune Augen stachen aus dem kantigen, wettergegerbten Gesicht hervor. Hätte nur eine Spur von Wärme in ihnen gelegen,
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