Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin
Autoren: Tracy Chevalier
Vom Netzwerk:
hielten sie an, um dem Pferd Wasser und Hafer zu geben und selbst den kalten Maisbrei zu essen, den man in Ohio gern frühstückte. Danach verschwand Thomas im Wald. Solange er weg war, stand Honor neben dem Wagen und betrachtete die Bäume auf der anderen Straßenseite. Die meisten kannte sie nicht, und selbst Bäume wie Eichen und Kastanien, die ihr von zu Hause vertraut waren, sahen hier anders aus. Die Eichenblätter waren spitzer und weniger wellig an den Rändern, die Blätter der Kastanien nicht so ausladend und fächerförmig. Das Unterholz wirkte abweisend, dicht und urwüchsig, als sei es eigens dazu da, die Menschen auf Abstand zu halten.
    Als Thomas wieder auftauchte, nickte er in Richtung Wald. »Wollen Sie sich auch erleichtern?«
    Â»Ich …« Honor wollte gerade ablehnen, aber etwas an seinem Verhalten sagte ihr, dass sie ihm besser wie einem Großvater folgen sollte. Außerdem wollte sie sich nicht anmerken lassen, dass sie sich in den Wäldern Ohios fürchtete. Früher oder später würde sie sich ohnehin an sie gewöhnen müssen.
    Honor verließ die Straße und trat zwischen die Bäume. Vorsichtig suchte sie sich einen Weg durch trockenes Laub, moosbewachsene Steine und abgebrochene Äste. Ein nasskalter Geruch nach Farn und Fäulnis umfing sie. Etwas raschelte, doch Honor versuchte es zu ignorieren. Sicher war es nur eine Maus, ein Eichhörnchen oder eins der kleinen, schwarz-weiß gestreiften Nagetiere, die sie hier Streifenhörnchen nannten. Sie hatte gehört, dass in den Wäldern Wölfe, Pumas, Stachelschweine, Stinktiere, Opossums, Waschbären und noch viele andere Tiere lebten, die es in England nicht gab. Die meisten würde sie nicht einmal erkennen, wenn sie ihr über den Weg liefen, was diese Tiere nur noch unheimlicher machte. Und Schlangen sollte es auch geben. Honor konnte nur hoffen, dass sich an diesem Morgen keine in der Nähe aufhielt. Als sie sich etwa zehn Meter von der Straße entfernt hatte, holte Honor tief Luft und zwang sich, das Gesicht in Richtung Wagen zu drehen und den Horden versteckter Tiere, die möglicherweise hinter ihr lauerten, den Rücken zuzukehren. Sie suchte sich einen Platz, an dem Thomas sie nicht sehen konnte, raffte den Rock hoch und ging in die Hocke.
    Der Wind strich raschelnd durchs Laub, und die Vögel zwitscherten, doch sonst war es still. Honor hörte, wie Thomas die Sitzbank des Wagens hochklappte, unter der sich anscheinend zusätzlicher Stauraum befand. Dann hörte sie ihn leise sprechen, vermutlich mit dem Pferd, um es zu beruhigen. Honor wäre auch gern beruhigt worden, dass ihr hier im Wald garantiert keine Wölfe und Pumas auflauerten. Das Pferd wieherte leise.
    Honor erhob sich und rückte ihre Röcke zurecht. Sie war zu verkrampft, um sich zu erleichtern. Sie schaute sich um. Weiter weg von zu Hause könnte ich gar nicht sein, dachte sie, und ich bin ganz allein. Ihr schauderte, und sie lief schnell zum sicheren Wagen zurück.
    Nachdem sie wieder auf den Sitz geklettert war, stampfte Thomas zweimal mit dem Fuß auf, und die Reise ging weiter. Das Frühstück schien ihn aufgeweckt zu haben. Er redete zwar nicht, begann aber vor sich hinzusummen, eine Melodie, die Honor nicht kannte, vielleicht war es ein Kirchenlied. Das Summen, das Klappern des Wagens und das Schnalzen der Zügel, der Wind und das Vogelgezwitscher, all die verschiedenen Geräusche lullten Honor ein und verschmolzen mit dem sich bis zum Horizont schnurgerade dahinziehenden Weg und den vorbeiwogenden Bäumen. Sie schlief zwar nicht, fiel jedoch in die meditative Versenkung, die ihr aus der Stillen Andacht vertraut war. Es kam ihr fast vor, als hielten sie und Thomas oben auf dem Wagen eine Andacht zu zweit ab, nur dass Freunde während der Andacht nicht summten. Honor schloss die Augen und überließ ihren Körper dem vom Rhythmus des Wagens bestimmten, natürlichen Schwanken. Endlich fühlte sie sich entspannt und ruhig genug, um in sich hineinzuhorchen und auf das Innere Licht zu warten.
    In der Andacht hatte Honor oft mit Ablenkungen zu kämpfen. Manchmal war ihr Kopf einfach zu voll, und ihre Gedanken wanderten von dem Krampf, den sie im Bein spürte, zu einer vergessenen Erledigung für ihre Mutter und weiter zum Fleck auf der weißen Haube einer Banknachbarin. Es erforderte Disziplin, den Geist zur Ruhe zu bringen. Zu einer Art innerem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher