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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin
Autoren: Tracy Chevalier
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trotzte Honor jedoch den unmissverständlichen Anweisungen des Arztes, nahm ihre Nähschere und schnitt ein Stück Stoff aus dem kastanienbraunen Kleid ihrer Schwester heraus. Eines Tages würde sie es für einen Quilt verwenden, und wenn es mit dem Fieber infiziert war und sie daran starb, dann war es eben Gottes Wille.
    Als Grace im Sterben lag, hatte Honor keine Träne vergossen. Ihre Schwesterhatte zum Schluss so gelitten, dass Honor zu Gott betete, er möge sie erlösen. Doch nachdem sie die Kleider und den Quilt zum Verbrennen abgegeben hatte, zog sie sich in ihr Zimmer zurück und weinte hemmungslos.
    Thomas schien die Stille genauso zu schätzen wie Honor. Er stellte keine Fragen, und Honor konnte zum ersten Mal, seit sie in Amerika an Land gegangen war, ungestört von Mitreisenden oder der Sorge um die kranke Schwester einfach dasitzen und schauen. Obwohl sie in die Dunkelheit hineingefahren waren, ging hinter ihnen bald die Sonne auf und tauchte die Wälder in ein weiches Licht. Der Vogelgesang wurde immer lauter und steigerte sich schließlich zu einem erregten Gezeter. Honor erkannte fast keine der Stimmen und staunte über das farbenprächtige Gefieder der meisten Vögel. Besonders ins Auge fielen ihr ein roter Vogel mit Federbusch über dem schwarzen Kopf und ein blauer Vogel mit schwarz-weiß gestreiften Flügeln. Die beiden vertrieben mit ihrem rauen Krächzen die kleineren, eher unscheinbaren Vögel. Sie hätte Thomas gern nach den Namen dieser bunt schillernden Exemplare gefragt, wollte ihn aber nicht stören. Ihr Reisegefährte saß so still da, dass Honor gedacht hätte, er sei eingeschlafen, wenn er nicht alle paar Meilen zweimal mit dem Fuß aufgestampft und mit den Zügeln geschnalzt hätte. Anscheinend wollte er die behäbige graue Stute, die den Karren zog, daran erinnern, dass es ihn noch gab. Das Pferd war zwar nicht schnell, aber brav und zuverlässig.
    Die Straße, die sie entlangfuhren, war viel schmaler als die Straßen, die Honor von den Kutschfahrten durch New Jersey und Pennsylvania kannte. Mit ihrer Schwester war sie den vielbefahrenen Routen gefolgt, an denen es immer wieder Häuser, Städte und auch Gasthäuser gegeben hatte, wo man die Pferde wechseln, essen und schlafen konnte. Doch die zerfurchte, ausgetrocknete Wagenspur, über die sie jetzt holperten, führte durch unendliche Wälder, die sich nur selten einmal zu einer Lichtung öffneten. Auch Häuser waren keine zu sehen, und nachdem sie mehrere Meilen lang immer nur durch Wald gefahren waren, ohne auch nur einen Hinweis auf menschliches Leben zu sehen, fragte sich Honor, wozu es diesen Weg überhaupt gab. Daheim in England führten die Straßen in der Regel an ein klar benanntes Ziel, doch hier schien das Ziel in weiter Ferne zu liegen und auch keinen Namen zu haben.
    Es half nichts, ermahnte sich Honor, sie durfte Ohio nicht dauernd mit Dorset vergleichen.
    Später tauchten doch noch vereinzelte Häuser am Wegesrand auf, die aussahen, als seien sie aus dem Wald herausgeschlagen worden. Jedes Mal, wenn sie an einem Haus vorbeikamen, atmete Honor schwer aus, holte dann tief Luft und hielt sie an, bis der Wald sich wieder um sie schloss. Dabei machten die Häuser nicht einmal viel her, meist waren es schlichte, von Baumstümpfen umgebene Blockhütten. Manchmal erblickte Honor einen Jungen, der draußen Holz hackte, eine Frau, die einen Quilt zum Lüften heraushängte, oder auch ein in einem Gemüsebeet hackendes Mädchen. Sie schauten Honor und Thomas nach, reagierten aber nicht auf dessen zum Gruß erhobene Hand. Thomas schien das egal zu sein.
    Nachdem sie eine Stunde lang unterwegs waren, fuhren sie durch ein Flusstal und auf eine Brücke zu. »Der Cuyahoga«, brummte Thomas. »Ein indianischer Name.« Doch Honor hörte gar nicht richtig zu und schaute auch nicht auf den Fluss hinab, sondern nach oben: Die flache Holzbrücke, über die sie rumpelten, hatte ein Dach. Anscheinend war Thomas ihr Staunen aufgefallen. »Eine überdachte Brücke«, sagte er. »Haben Sie noch nie eine gesehen?«
    Honor schüttelte den Kopf.
    Â»So fällt kein Schnee drauf, und es wird nicht glatt.«
    Die Brücken in Dorset waren gebogen und aus Stein. Honor hatte nicht damit gerechnet, dass ein so grundlegendes Bauwerk wie eine Brücke in Amerika so anders aussehen konnte.
    Nach ein paar Stunden
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