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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin
Autoren: Tracy Chevalier
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hinzu. »Aber älter als ein paar Hundert Jahre sind die beiden Städte auch nicht. Wahrscheinlich ist dann Amerika einfach das falsche Land für dich. Vielleicht solltest du nach England zurück. Was hält dich auf?«
    Honor dachte an die alles erstickende Übelkeit an Bord der Adventurer , an die nicht enden wollenden Wochen ohne festen Boden unter den Füßen. Doch hatte sie den in Amerika gefunden? Ihr Magen hatte sich vielleicht beruhigt, doch Fuß gefasst hatte sie in dem fremden Land noch nicht.
    Â»Warum sind Sie überhaupt aus England weg?«, fragte Mrs Reed. Hätte sie die Augen geschlossen, würde Honor nicht sicher sagen können, welche der beiden Frauen gerade sprach, so ähnlich waren sie sich.
    Â»Meine Schwester wollte hier heiraten, doch sie ist unterwegs gestorben.«
    Â»Ich hab nicht nach Ihrer Schwester gefragt, sondern nach Ihnen, Honor. Haben Sie noch Familie drüben in England?«
    Honor nickte.
    Â»Warum sind Sie dann nicht daheim geblieben? Oder hat man Sie gezwungen, Ihre Schwester zu begleiten?«
    Ein bitterer Geschmack legte sich auf Honors Zunge, doch sie wusste, dass sie antworten musste. »Ich war schon so gut wie verheiratet, doch dann hat er eine andere kennengelernt. Er hat für die Frau sogar die Gemeinschaft der Freunde verlassen.« Der Gedanke an Samuels Schicksal erinnerte Honor daran, dass auch sie bald keine Freundin mehr sein würde.
    Â»Na und? Deshalb hätten Sie doch trotzdem bleiben können.«
    Honor holte tief Luft und zwang sich, das auszusprechen, was sie noch nie laut gesagt hatte. Mehr noch, sie hatte sich nicht einmal erlaubt, es richtig zu denken. »Daheim mit Samuel gab es eine Nische für mich, in der ich mein Leben einrichten wollte. Dann hat man sie mir genommen, und ich wusste nicht mehr, wo mein Platz war. Ich dachte, es wäre besser, wegzugehen und irgendwo neu anzufangen. Ja, genau das habe ich gedacht.«
    Â»Das ist eine ziemlich amerikanische Einstellung: einfach weggehen und die Probleme hinter sich lassen«, sagte Belle. »Wenn du so gedacht hast, bist du hier vielleicht doch nicht so verkehrt. Womöglich bist du insgeheim selbst ein Mensch, der gern Neues wagt. Nenn mir doch mal ein paar Dinge, die dir an Ohio gefallen.«
    Â»Eines kann ich dir schon mal verraten«, fuhr Belle fort, als Honor nicht gleich antwortete. Sie nickte zu Mrs Reeds Hut hin. »Ahornlaub. Immer wieder machst du mich auf die roten Ahornblätter aufmerksam und sagst, dass das englische Herbstlaub nicht so schön ist.«
    Honor nickte. »Ja, die amerikanischen Ahornbäume sind wunderschön. Und die Vögel auch, der Kardinal und der Carolinaspecht. Niemals hätte ich gedacht, dass Vögel ein so leuchtend rotes Gefieder haben könnten. Und dann noch die Kolibris, die mag ich auch sehr.« Sie hielt inne. »Frischen Mais. Popcorn. Ahornsirup. Pfirsiche. Glühwürmchen. Streifenhörnchen. Hartriegel. Einige der Quilts.« Sie blickte Mrs Reed an und dachte an den Quilt, den sie in ihrem Vorderzimmer gesehen hatte.
    Â»Na, hör mal einer an! Das ist doch schon ’ne Menge. Und wenn du weiter überlegst, fallen dir bestimmt noch mehr Sachen ein.«
    Jetzt machte sich Comfort in der Wiege bemerkbar. Sie weinte nicht, sondern ließ die anderen einfach auf ihre ganz eigene Art wissen, dass sie auch noch da war.
    Â»Ach, das Baby.« Noch bevor Honor aufstehen konnte, hatte Mrs Reed Comfort aus der Wiege gehoben. Sie hielt sie auf dem Arm und tätschelte ihr den Rücken. Comfort weinte nicht, sondern akzeptierte ruhig und gelassen, dass die fremde Frau sie hielt. »Ich liebe das Gewicht von Babys«, sagte Mrs Reed. »Es fühlt sich an, als hielte man eine Tüte mit Maisgries im Arm, die nur darauf wartet, verspeist zu werden.« Sie schmatzte dem Baby ins Ohr. »Hm, lecker Baby.«
    Honor schaute ihre Tochter an. Einen Moment lang hatte sie dasselbe Gefühl, das auch Jack bei einem seiner Besuche hervorgerufen hatte: Hier passte etwas genau zusammen. Die beiden Frauen vor ihr waren sich in so vielem ähnlich, dass ihre Hautfarbe keine Rolle mehr spielte. Honor fühlte sich ihnen zugehörig, doch sie wusste, dass dies nur ein flüchtiger Eindruck war. Mrs Reed hatte ihre eigene Gemeinschaft, und Belle würde nicht mehr lange leben. Sie saß schon wieder ganz zusammengefallen da, das bisschen Energie, das sie im Schlaf gesammelt hatte, war
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