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Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Titel: Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Autoren: Christian Buder
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Fledermäuse ja auch nicht für verrückt erklärte, nur weil sie Ultraschall hören konnten. Allein auf die wichtigste Frage hatte ihr Wittgenstein noch keine Antwort gegeben: Warum konnte nur sie ihn sehen und mit ihm sprechen?
    Bücher waren Zimmer, in die man ging, und dann stand man plötzlich auf einer Wiese vor einem Bergpanorama. Es gab normale Bücher, wo die Wörter ausgelöscht wurden, wenn man sie las. Und dann gab es noch die Bücher von Philosophen. Gedanken, die Tausende von Jahren alt waren. Alice konnte sich nicht erinnern, wann es das erste Mal geschehen war. Doch so richtig bewusst wurde es ihr erst mit Wittgenstein. Sie hatte den ersten Teil seines Tractatus gelesen. Unverdaulicher Stil. Wie konnte man nur so grauenhaftes Zeugs zusammenschreiben? Schlimmer als die Blaskapelle in Hintereck oder die verbrannten Hendl im »Schwarzen Bichl«. Sie hatte es laut gesagt oder nur gedacht, als er plötzlich neben ihr schritt. Seine Spuren im Schnee fingen einfach neben Alices Spuren an, als wäre er vom Himmel gefallen. Ein mageres Gesicht, ein Anzug, der aus der Altkleidersammlung stammte, die Ärmel waren abgewetzt und mit Kreide verschmiert. So wie bei einem Lehrer. Der hagere Mann stellte sich als Ludwig Wittgenstein vor. »Ich habe dieses Zeugs geschrieben.«
    Seit jenem Tag hatte Wittgenstein sie nicht mehr verlassen. Er war ihr ewiger Nachbar geworden. Wittgenstein zeigte sich manchmal, wenn er mit ihr sprach. Manchmal auch nicht. Da redete er nur in Träumen zu ihr, oder er ging mitten im Fernsehkrimi durch das Bild oder schaute aus dem Fenster, als ein Reporter aus dem zerbombten Beirut berichtete. Wittgenstein war überall, und er war es auch, wenn ihn Alice nicht sah. Es hatte sie nie gestört, dass Wittgenstein bereits seit 1951 tot war.
    Von da an wusste Alice, dass sie tote Philosophen erwecken konnte. Sie waren um sie. Bisher hatte sich nur Wittgenstein zu erkennen gegeben. Die anderen waren da irgendwo unter den Touristen und Bergwanderern. Platon mit Holzstock oder Herakles in der Seilbahn. Ob die anderen Menschen sie sehen konnten, wusste Alice nicht. Warum nur Wittgenstein sie ansprach, war ihr noch ein Rätsel. Vielleicht um ihr zu sagen, dass sie nicht verrückt war. Dass jeder Philosoph über Jahrtausende mit anderen reden konnte. Sie waren eine große Familie. Nur was Alice in dieser Familie zu suchen hatte, war ihr unklar. Wittgenstein beruhigte sie: »Das Verstehen kommt mit dem Denken und nicht mit dem Wissen.«
    »Und wozu Philosophie?«, fragte Alice.
    »Licht in ein oder das andere Gehirn zu werfen ist nicht unmöglich, aber freilich nicht wahrscheinlich.«
    Was aber noch nicht erklärte, warum er gerade sie ausgewählt hatte. Sie war zwar schon elf, hatte aber noch nichts Weltbewegendes gedacht und geschrieben. Irgendeinen Grund musste es jedoch geben. Es gab immer einen Grund, und jeder Mensch handelte nach Gründen, selbst tote Philosophen. Ihre Verwirrung amüsierte Wittgenstein, der ansonsten der humorloseste Mensch war, den Alice je getroffen hatte.
    Großvater hatte Teifis Antiquariat schon verlassen und zog an seiner Pfeife. Alice nahm ihre Bücher unter den Arm und ging wortlos an dem Antiquar vorbei. Sie zog ihre Mütze auf, als etwas sie zurückriss. Sie hatte keine Zeit zu reagieren und wäre nach hinten gefallen, wenn Teifi seinen Griff gelockert hätte.
    »Sie tun mir weh!«
    Die schwarzen Knopfaugen des Antiquars starrten sie aus einem weißen Gesicht an. Er drehte ihr Handgelenk nach oben,so dass sie sich unter ihm wand und seinen Atem riechen musste. Eine Mischung aus Mundwasser und Rotwein.
    »Ich rate dir, dass du deinen vorlauten Mund nicht zu weit aufmachst.«
    »Lassen Sie mich …«
    Teifi ließ sie los. »Wenn du dich in die Angelegenheiten von Erwachsenen einmischst, dann wirst du wie eine Erwachsene behandelt. Und glaube mir, das willst du nicht …«
    »Ich lasse mir nichts verbieten.«
    »Dann trage die Konsequenzen … und jetzt verschwinde.«
    Was hatte den Antiquar so erschreckt? Die Tatsache, dass er sie mit dem Buch über den Tisch ziehen wollte? Teifi hatte gewartet, bis Großvater außer Sichtweite war, um ihr den Arm zu verdrehen. Von welchen Angelegenheiten redete er? Alices Bemerkung hatte Teifi kurz die Kontrolle verlieren lassen wie jemand, der Angst hatte und diese Angst mit großer Mühe verbarg, wie jemand, der etwas zu verheimlichen hatte und Fragen verabscheute.

6.
    Auf dem Rückweg war die Straße nach Hintereck von einer dichten
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