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Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Titel: Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Autoren: Christian Buder
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ihn?«
    »Ich bin ihm bisher nur einmal begegnet«, antwortete Alice.
    »Ach, du bist ihm begegnet …«
    »Ein- oder zweimal, auf einem Schulausflug nach Neuschwanstein. Er stand in einer Touristengruppe, die man in einer Viertelstunde durch das Schloss führt. Er meinte, ich solle sein Buch über die Weltentstehung lesen.« Sie nickte und berührte die Büste. »Gutes Buch. Geschrieben wie das Gerede am Stammtisch. Lauter Dialoge. Nur dass damals der Stammtisch nicht so stumpfsinnig war. Die unterhielten sich über die Entstehung der Welt und über das Verschwinden von Atlantis. Platon dachte, dass es zwei Welten gab. Eine perfekte Welt der Ideen. Der Plan. Und die sichtbare Welt war der mehr oder weniger verpfuschte Entwurf.«
    »Dann gab es auch ein perfektes Hintereck«, witzelte ihr Großvater.
    »Ein perfektes Hintereck wäre kein Hintereck mehr.«
    Sie lachten beide. Teifi stand daneben und war über ihre Heiterkeit sichtlich genervt. In einem Antiquariat galten schließlich dieselben Regeln wie in einer Bibliothek oder einer Kirche.
    »Wenn Platon heute so aussehen würde, dann hielte man ihnfür einen Taliban. In die USA dürfte er nicht einreisen. Bestenfalls im Allgäu würde er nicht auffallen. Der Bart vom Wirt des ›Schwarzen Bichl‹ sah auch so aus.«
    »Dieses Buch will ich auch noch.«
    Der Antiquar nahm es in die Hand. »›Spuren lesen. Aus dem Alltag der Spurensicherung von Norman Pepper‹. Bist du dafür nicht noch zu klein?«
    Warum müssen Kinder sich immer rechtfertigen, wenn sie sich für etwas interessieren? Er hat es nicht einmal gelesen … alter Klugscheißer. Warum Leute, die Bücher verkaufen, auch noch so tun, als wüssten sie, was drinsteht? Für sein Alter konnte man genauso wenig wie für seine Körpergröße oder seine Augenfarbe. Wie dieser Mann der Bücher nur so viel Schmarrn reden konnte!
    »Und was lesen elfjährige Mädchen in der Regel so?«
    »Na, Pippi Langstrumpf oder Herr der Ringe …« Der Antiquar grinste.
    »Dann können Sie ab heute sagen«, sagte Alice überdeutlich, »dass elfjährige Mädchen Bücher über Serienmörder lesen. So, und das kommt noch obendrauf.«
    Sie nahm ein ledergebundenes Buch von dem Tisch am Eingang. Es war schwer. Der Einband war vergilbt. Die Schrift des Titels war verblasst, aber noch lesbar.
    »›Philosophische Untersuchungen, von Ludwig Wittgenstein‹ … Was willst du denn damit?«
    »Geben Sie es mir, wenn ich Ihnen die erste Seite auswendig zitiere?«
    »Das ist eine Goldrandausgabe aus dem Jahre 1953, ledergebunden. Die kostet 180 Euro.«
    »Sie kneifen.«
    »Ich verwette keine teuren Sammlerstücke. Für 100 Euro …«
    »Ich will es gar nicht.«
    »Hast du nicht gesagt, dass du es willst?«, meinte ihr Großvater.
    »Ja, aber das habe ich nur gesagt, damit dieser Herr Wittgenstein auf die Liste der Bücher für elfjährige Mädchen gesetzt wird. Außerdem …«
    Das überhebliche Grinsen des Antiquars erlosch, als Alice das Buch wie einen toten Vogel aufspreizte und die Blätter nach unten hingen.
    »Was zum Teufel machst du …«
    »Wenn dies eine Originalausgabe von 1953 wäre, dann hätte sie keine Klebebindung, sondern eine Fadenheftung. Das ist eine billige Ausgabe.«
    Der Antiquar riss ihr das Buch aus der Hand. »Wenn dieser Wittgenstein wüsste, wie du mit seinem Buch umgehst, dann würde er sich …«
    »Es würde ihn nicht die Bohne interessieren«, sagte Alice und blickte zu dem hageren Mann, der unter der Laterne vor dem Laden stand. Ludwig Wittgenstein hatte sich noch nie für materielle Dinge interessiert. Auf der Rückseite ihrer Taschenbuchausgabe war ein Bild des jungen Wittgenstein. Der Mann unter der Laterne hatte dieselben nach innen blickenden Augen, dasselbe lange kantige Gesicht, doch es war gezeichnet.
    Als seine Spuren eines Tages wie aus dem Nichts im Schnee neben ihr waren, hatte da eine traurige Gestalt gestanden. Ludwig Wittgenstein tauchte an den unpraktischsten Orten auf. In der Schule, beim Abendessen oder in einer Talkshow im Fernsehen, unsichtbar für Millionen von Fernsehzuschauern.
    Als er ihr erzählte, dass er alle Probleme in der Philosophie gelöst und daraufhin sein ganzes Vermögen verschenkt habe, glaubte sie ihm zunächst nicht. Dann hielt sie ihn für bekloppt und schließlich für genial. Nur gab es niemanden sonst, der tote Philosophen sehen konnte. Und Alices erster Gedanke war, dasses sich so anfühlen musste, wenn man verrückt wurde. Dann überlegte sie, dass man
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