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Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Titel: Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Autoren: Christian Buder
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nichts mit dem aufkommenden Alpentourismus, dem Hotel »Alpblick« und den Liftanlagen, die den Berghängen ein Aussehen gaben, als hätte ein Chirurg sie notdürftig zusammengeflickt. Auch in den Archiven in Sonthofen oder Hindelang wurde das Dorf nicht erwähnt. Es war so, als wäre es einfach durch die Geschichte gefallen. So suchte man in Hintereck vergeblich nach Tafeln mit historischen Daten, die dem Fremdendas Bewusstsein einflüsterten, dass er sich an einem Ort befand, der auch schon vor ein paar hundert Jahren ein Ort gewesen war.
    Alice war erstaunt, dass die Menschen in Hintereck nie darüber nachdachten, ob ihr Leben anders aussähe, wenn sie nicht in Hintereck geboren wären. Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, wie die Hintereckler wären, wenn sie nicht in Hintereck, sondern in Paris oder Chicago leben würden. Als sie zehn Jahre alt war, las Alice Gullivers Reisen und fand, dass es ungesund war, immer im selben Ort zu leben. Der Himmel ist überall blau, und die Menschen sind überall abscheulich, meinte ihr Vater, wenn sie mit ihren Reise- und Umzugsplänen kam. Alice hatte eine Nacht über der Antwort ihres Vaters geschlafen und ihm dann am Frühstückstisch ihre Gedanken eröffnet. Ihr Vater schlürfte seinen Kaffee und hielt seinen Kopf in der Allgäuer Zeitung versenkt.
    »Kann ich etwas fragen?«
    Ihr Vater blickte hinter seiner Zeitung hervor. Ihre Frage war völlig unnütz. Klar, aber sie diente auch nur dazu, um die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu haben. Er hatte sein müdes Lächeln aufgesetzt, das er jeden Morgen zeigte und das erst nach der zweiten Tasse verschwand.
    »Es ist nicht richtig, dass der Himmel überall blau ist.«
    »Das ist keine Frage.«
    »Das stimmt. Ich stelle in Frage, was du mir gesagt hast.«
    »Was habe ich denn gesagt?«
    »Na, dass der Himmel überall blau ist und die Menschen überall abscheulich sind.«
    »Das sagt man halt so. Verdammt, Sonthofen steigt dieses Jahr wieder nicht auf. Diese Grantler.« Er wollte sich wieder der Zeitung widmen. Die Sportseite war ihm vor Dienstantritt wichtiger.
    »Heißt das, dass es nicht stimmt?«
    »Nein, nur dass man dies so sagt, wenn jemand glaubt, dass es woanders immer besser ist.«
    »Wenn man aber nie woanders war, wie konnte man dann sicher sein, dass es nicht stimmt?«
    »Was nicht stimmt?« Ihr Vater klang genervt und schenkte sich Kaffee nach.
    »Na, dass es eben woanders wirklich besser ist.«
    »Fräulein Schlaumeier, das musst du erst einmal beweisen.«
    »Dazu muss ich aber erst woanders leben, um es beweisen zu können.«
    »Musst du eigentlich immer widersprechen? Das ist anstrengend.«
    »Ich weiß, ich bin anstrengend, und Amalia ist die brave Tochter.«
    »Ihr seid beide brav. Ich liebe euch beide. Nur Amalia quält mich nicht dauernd mit sinnlosen Fragen.«
    »Sie hat auch gar keine Zeit«, schrie Alice gereizt über so viel Missachtung. Wie konnte ihr Vater nur den Sportteil dieses lausigen Alpenblattes ihren Überlegungen vorziehen? »Sie ist ja von früh bis spät damit beschäftigt, ihre Wimpern anzumalen und ihre Pickel zuzukleistern.«
    »Hör auf, über deine Schwester zu lästern. Wenn du sechzehn bist, dann machst du das auch.«
    »Woher willst du wissen, was ich mit sechzehn mache. Außerdem …«
    »Was außerdem?« Ihr Vater hatte sein überlegenes Grinsen aufgesetzt – über die heimliche Freude, Alice auf die Palme gebracht zu haben.
    »Außerdem ist die Analogie mit dem Himmel völlig idiotisch.« Das Wort »Analogie« hatte sie extra in Großvaters vierzigbändiger Brockhaus-Enzyklopädie nachgeschlagen.
    »Analogie … Da wirft jemand mit Fremdwörtern um sich. Es ist aber nicht bestreitbar, dass der Himmel überall blau ist, oder?«
    »Schon, aber du könntest genauso sagen, dass Wasser bei 100 Grad kocht oder der menschliche Körper normalerweise 36,8 Grad Temperatur hat. All das stimmt, hat aber nichts damit zu tun, dass die Bewohner in einem anderen Land Kühe anbeten, anstatt sie zu essen, oder dass Menschen sich gegenseitig aufessen. Dein Vergleich ist … völlig daneben.«
    Ihr Vater hatte seine Uniform schon angezogen. Er legte den Gürtel mit seiner Dienstwaffe an und trank – wie jeden Morgen – den letzten Schluck Kaffee im Stehen.
    »Viel Spaß in der Schule.«
    »Viel Spaß beim Verbrecher-Jagen.«
    »Ich jage keine Verbrecher, sondern Parksünder, die vor Weihnachten im Parkverbot stehen.«
    »Letzter Schultag«, rief Amalia aus dem Bad, das sie seit gut einer
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