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Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Titel: Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Autoren: Christian Buder
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halben Stunde besetzt hielt.
    Alice warf sich ihren warmen Mantel um die Schultern. Heute gab es keinen Unterricht mehr. In den ersten zwei Stunden schauten sie einen Film an. Wahrscheinlich wieder einer dieser langweiligen Filme mit Jugendfreigabe, die ihr Lehrer ausgesucht hatte. Sie machte sich auf den Weg. Danach das Weihnachtssingen mit dem Pfarrer, der auch gleichzeitig Religionslehrer war.
    Durch Hintereck führte eine Straße, die Talstraße hieß. Von dieser zweigten sich antennenartig Wege ab, die alle am Berghang endeten oder wieder auf die Talstraße führten. Der einzige Platz im Dorf war der Kirchplatz. Auf ihm stand das einzige Denkmal. Ein vermooster Stein mit eingravierten Namen der Kriegstoten. Den Toten zur Erinnerung, den Lebenden zur Mahnung . Jedes Jahr legte dort der Hindelanger Verein zur Kriegsdenkmalpflegeeinen Kranz nieder, der dann ein Jahr Zeit hatte zu verrotten. Ebenso wie die Blumen vor dem hölzernen Straßenkreuz, das in der letzten Kurve vor Hintereck verwitterte. Jedes Jahr lagen dort Rosen unter dem namenlosen Kreuz. So wie keiner sich mehr an die Bedeutung des Kreuzes in Hintereck erinnerte, so wenig interessierte es auch, wer dort die welken Blumen austauschte.
    Die Kirche war neben dem Wirtshaus »Der Schwarze Bichl« der meistbesuchte Ort im Dorf. Das Hotel hatte zwar mehr Gäste im Monat als das Dorf Einwohner, doch zählten die Bewohner das Hotel nicht zum Dorf.
    Die Dorfschule hatte zwei Klassenzimmer, in denen ungefähr vierzig Schüler unterrichtet wurden. Das Schulgebäude glich einer Lagerhalle mit hohen schmalen Fenstern, die nur gekippt werden konnten. Am letzten Schultag im Dezember vor den Weihnachtsferien sangen die Schüler in drei Gruppen vor der Schule. Stille Nacht, heilige Nacht und O du fröhliche . Einige Eltern waren gekommen und hörten ihren Kindern zu. Der Kindergesang, den nicht der Lehrer, sondern Pfarrer Bez anstimmte, hallte über den Kirchhof und verlor sich in den dunklen Fichtenwäldern am Fuß des Berghanges. Weihnachtsstimmung in den Fenstern. Rote gefaltete Sterne, leuchtende Engel. In den Gärten glitzerten Tannenbäume, die mit Lametta und LED-Leuchten vollgehängt wurden.
    Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, was wenige Stunden vor dem 24. Dezember geschehen würde. Während die Bewohner sich auf die Geburt des Heilands vorbereiteten und die letzten Geschenke unter den Christbaum legten, griff etwas Böses nach ihnen. So würde es später der Pfarrer benennen, doch das Böse hatte viele Namen, und es tauchte da auf, wo man es am wenigsten vermutete. Nur Alice hatte eine Veränderung bemerkt.
    Alles begann , schrieb sie in ihr Notizbuch, als plötzlich die Hunde im Dorf verstummten.

3.
    23. Dezember
    Der Wetterbericht hatte für Heiligabend Schnee vorausgesagt. Nur war nicht viel davon zu sehen. Die Gipfel des Breitenbergs und der Mittagsspitze waren schneebedeckt und glichen in der Mittagssonne Zuckerhüten. Der Mann im Radio sprach von einem milden Jahrhundertwinter. Klimawandel. Der Sprecher des Alpenvereins befürchtete Einbußen beim Tourismus, wenn es nicht bald kälter werden würde. Alice hatte dem Bericht nur halb zugehört und ihren Schulranzen auf ihr Bett geworfen, um zu ihrem jährlichen Spaziergang aufzubrechen. Weihnachten konnte man auch ohne Schnee feiern, dachte sie.
    Die matschige Wiese gluckste unter ihren Schritten. Es war sogar unwahrscheinlich, dass die Geburt von Jesus in einer weißen Winterlandschaft stattgefunden hatte. Sonst hätten die Grippenfiguren in der Kirche Pelzmäntel an, und die Heiligen Drei Könige wären mit Schlitten gekommen. Der Weihnachtsbaum war eher eine Weihnachtspalme. Also war der Klimawandel für den Heiligen Abend gar nicht so schlimm.
    Auf der anderen Seite der Wiese blieb Alice stehen und blickte sich um. Normalerweise sammelte sich um diese Tageszeit das Gebell von Hunden im Tal. Das Gekläffe vermischte sich mit dem Echo der steilen Felsen und wurde zu einem infernalischen Chor. Nur heute nicht. Es war still, viel zu still.
    Die Dächer Hinterecks lagen bereits unter ihr und warteten geduckt auf den Schnee. Alice orientierte sich kurz an dem Fichtenwald und der Wegkreuzung. Ihr Haus lag höher als dieanderen. Deutlich konnte sie die grauen Holzschindeln erkennen, das gestapelte Holz an der Südseite, den Hackstock, den Brunnen, in dem sich im Sommer das Bergwasser staute, und die geschlossenen Fensterläden im ersten Stock. Das Fenster, das ihr Vater nicht mehr öffnete seit jener Nacht.
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