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Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Titel: Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Autoren: Christian Buder
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Ein Zimmer, in dem ewige Dunkelheit herrschte, im dem es noch nach ihrer Mama roch, ihren Kleidern, in dem noch die Geschenke lagen, die Alice nie ausgepackt hatte.
    Sie setzte sich auf eine abgestorbene Wurzel einer Latschenkiefer. An dieser Stelle hatten sie ihre Mutter noch in der Nacht gefunden. Ihr Vater hatte sie erst allein im Dorf gesucht. Als Letzte hatte die Lebensmittelhändlerin Emma Kuhl sie gesehen. Sie konnte nur aussagen, dass ihre Mutter es eilig hatte. Nach zwei Stunden vergeblicher Suche alarmierte ihr Vater die Bereitschaft seiner Dienststelle in Hindelang. Er hatte an Weihnachten frei. Sein jüngerer Kollege Franz Bimke hatte Dienst. Nach drei Stunden Suche fand ein Hund ihre Mutter.
    »Du musst jetzt stark sein«, hatte ihr Vater zu ihr gesagt. Er hatte noch mehr gesagt, aber daran konnte sich Alice nicht mehr erinnern. Sie begriff auch nicht, dass ihre Mutter nie wieder zurückkehren würde. Doch Alice gab sich nicht mit der Erklärung zufrieden, dass ihre Mutter tot war. Sie lernte, dass es nicht einfach war, die Wahrheit von den Erwachsenen zu erfahren. »Etwas Schlimmes ist ihr zugestoßen« oder »Sie ist bei den Engeln …«, hörte sie immer wieder. Erst ihr Großvater sagte das Wort, das keiner zu ihr sagte: »Deine Mutter ist tot.«
    Menschen starben nicht einfach so. Und Alice begriff, dass es einen Unterschied zwischen Sterben und Tod gab. Der Tod war für alle gleich, doch das Sterben war immer anders. Manche alte Menschen wie ihre Großmutter starben, weil sie alt und krank waren. Sie gingen aus wie eine niedergebrannte Kerze.Andere hatten einen Unfall wie die zwei Wanderer aus Ulm, die letztes Jahr im Sommer am Imberger Horn abgestürzt waren. Sie hatten sich mit Selbstauslöser auf einem Felsvorsprung fotografiert, doch als es klick machte, hatte die Kamera nur den blauen Himmel fotografiert. Dann gab es Menschen, die starben, weil andere Menschen sie töteten. Das schlimmste Verbrechen: Mord. Doch das schlimme Wort wollte keiner zu ihr sagen. Sie redeten von einem schlimmen Unfall. So als könnte Alice dadurch in einer Welt ohne Mord aufwachsen. So als gäbe es das Zimmer mit dem ewig verschlossenen Fensterladen nicht. Keiner wollte die Wahrheit sagen. Vielleicht auch, weil keiner sie kannte.
    Alice folgte dem Weg durch das Fichtenwäldchen. Einige Stellen waren glitschig, und auf dem Felsen rutschte sie öfters aus. Kein passender Zeitpunkt vor den Ferien, sich den Fuß zu brechen. Der Weg machte eine Schleife. Der spröde Sockel mit der steinernen Schwarzen war noch hundert Meter vor ihr. Seit sie mit Tom diesen Ort entdeckt hatte, war es ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass die Schwarze eine Marienfigur war. Verkohlt von dem Brand, der die alte Gruberhütte bis auf die Grundmauern zerstört hatte. Nur die steinerne Marienfigur hatte den Brand überstanden. Sie stand zum Schutz der Berghütte an einer Ecke des Hauses. Die Metallhalterungen für die Kerzen waren in der Hitze geschmolzen. Zurück blieb die Schwarze. An manchen Tagen verabredete sie sich mit Tom auch nur am Kohlstein oder bei der Kohlmaria. Von dort hatte man einen herrlichen Ausblick auf das Dorf und auf die Kirche mit ihrem Friedhof.
    Der weiße Stein nahe der Kirchmauer war das Grab ihrer Mutter. Der einzig weiße Grabstein. Ihr Vater sagte, dass über die Jahre alle Grabsteine grau wurden, wie die Erinnerungen an die Toten. Aber Alice hatte zu wenige Erinnerungen an ihreMutter, als dass sie sie einfach vergessen konnte. Seit vier Jahren fror ihre Mutter jeden Winter in der Erde. Wenn die Toten überhaupt froren. Ihr Großvater meinte, dass die Toten nichts mehr spürten, aber mit Sicherheit konnte er das auch nicht sagen. Es bleibe von den Toten nichts mehr übrig, was frieren könne, war seine Erklärung, mit der er Alices Frage für beantwortet erklärte. Und die Seele friere nicht. Auch darüber konnte Großvater keine exakte Auskunft geben.
    Der Himmel zog sich zwischen den Bergen zusammen. Wolken verschanzten sich knapp unterhalb der Gipfel, so als planten sie einen Angriff auf das Dorf. Vielleicht hatte der Wetterbericht doch recht, und es schneite Heiligabend. Wie am Heiligen Abend, als ihre Mutter nicht mehr zurückgekommen war. Nein, Alice würde ihre Mama niemals vergessen. Grabsteine verblassen, nicht jedoch die Erinnerungen, die sie gern gehabt hätte.
    »Wir müssen uns damit abfinden«, tröstete sie ihr Vater. Doch das Wort »abfinden« war ihr so suspekt wie das Wort »Tod«. Ihr Vater
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