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Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Titel: Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Autoren: Christian Buder
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Schneedecke bedeckt. Als der Wagen in die vereiste Hofeinfahrt zu ihrem Haus einbog, sah Alice die geduckte Gestalt auf der Treppe. Es war Tom. Eingepackt in seinem blauen Polaranorak und seinen roten Moonboots, glich er dem Michelin-Männchen. Er hatte auf sie gewartet und gefroren.
    »Jingle Bells. Aus den über dreihundert Lautsprechern im Hotel. Das ist Gehirnwäsche«, sagte Tom. »Dasselbe Geschwätz, dieselben Lieder, dieselben roten Gesichter und der Pfarrer, der so viel Wein intus hat, dass er kaum mehr stehen kann.«
    »Brauchtum, hat mein Vater heute gesagt. Das ist uraltes Brauchtum. In Wirklichkeit immer derselbe Mist«, ergänzte Alice.
    »Wäre besser, wenn man jedes Jahr die Geburt eines anderen Menschen feierte. Es gibt ja genug davon.«
    »Fällt dir einer ein?«
    »Tim Berners-Lee …«
    »Wer?«
    »Erfinder des World-Wide-Web … oder Léon Bollée, der Erfinder der Rechenmaschine.«
    »Jedes Weihnachten ein anderer Erfinder … gute Idee. Statt einem Christbaum gäbe es dann jedes Jahr riesige Pappcomputer, die blinken …«
    »Ja, oder U-Boote oder ein Riesenmonopoly, das Charles Brace Darrow erfunden hatte.«
    »Dein Gedächtnis möchte ich haben.«
    »Lauter nutzloses Wissen.«
    »Man weiß heute doch nie, was morgen von Nutzen ist. Lass uns ins Dorf gehen. Der ›Schwarze Bichl‹ schließt bald.«
    Der »Schwarze Bichl« war die einzige Dorfkneipe in Hintereck, die, seit Alice denken konnte, Josef Tanneis gehörte, einem Wirt, der Worte hasste und hinter seiner Theke Gläser spülte und Bier einschenkte. Seinen Mund machte er nur dann auf, wenn jemand randalierte oder nicht zahlen wollte.
    Die Kneipe hatte Josef Tanneis von seinem Vater geerbt, einem gebürtigen Tiroler. Obwohl Josef Tanneis in Hintereck geboren wurde, galt er immer noch als Zugereister. Alices Großvater beschrieb den »Schwarzen Bichl« als Endstation des Lebens. »Wer dort mehr als einmal im Monat sitzt, geht nirgendwo mehr hin. Der wöchentliche Stammtisch ist eine Schachpartie, die von keiner Seite mehr gewonnen werden kann, mit dem Unterschied, dass die Spieler noch irgendwie glauben,dass es vorangeht. Hier spielt sich die Tragik des Lebens ab«, sagte ihr Großvater.
    Im Sommer setzte sich Alice mit Tom in die Nähe des Stammtisches, der unter den alten Kastanien stand, und lauschte den Gesprächen der Alten. Ihr fiel auf, dass mindestens einmal im Monat einer der Stammtischältesten einen Streit vom Zaun brach. Am streitsüchtigsten waren Karl Oberschrat und Anton Haas, die beiden Ältesten, nachdem Georg Zugl, ihr früherer Lehrer und Vorgänger von Dr. Lehmko, überraschend nach einem Unfall an der Kreissäge gestorben war. Alice hatte erst nicht verstanden, warum es unter den Männern zum Streit gekommen war. Sie stellte fest, dass der Grund niemals nachvollziehbar war. Auch Wittgenstein musste hier passen. Oberschrat und Haas waren die Wortführer, was auch daran liegen konnte, dass sie das lauteste Sprechorgan hatten.
    Die meisten Gespräche hatten kein Ziel. Jemand redete von den Benzinpreisen, wobei das Wort »Mineralölkonzerne« fiel. Von da an spannte sich der Bogen zur Politik und von der Politik zum korrupten Bauamt, das dafür sorgte, dass die Blumenkästen in den Häusern die gleiche Farbe hatten, es aber zuließen, dass die Alpenlandschaft zunehmend betoniert wurde, und am Ende landete das Gespräch wie ein weggeworfenes Guzlepapier beim Faschingsverein oder der Hinterecker Blaskapelle. Sie erzählten dieselben Geschichten in unterschiedlichen Versionen, und doch lief die Welt wieder in Hintereck zusammen.
    »Niemand kann mich zwingen, einen Schwulen als Kanzler zu wählen«, rief Haas, »oder mir verbieten, eine Zigarre zu rauchen, nur weil die Deppen in Berlin das Klima retten wollen. Und der Präsident der Amerikaner raucht täglich drei Zigarren. Die scheren sich einen Dreck ums Klima.«
    Sie redeten, um nicht vergessen zu werden, und hofften, dass sie durch die Erzählungen am Stammtisch auch nach ihrem Todnoch am Leben blieben. Mehr aus Furcht als aus Respekt setzte sich daher auch keiner auf den leeren Stuhl, auf dem Georg Zugl zu Lebzeiten gesessen hatte. Sie bestellten ihm ein Hefeweizen, das nach jeder Runde ausgetrunken wurde, meistens von Karl Oberschrat.
    Tom drückte die Tür zum Schankraum auf. Es war erst halb neun Uhr. Der Wirt warf Tom und Alice einen missbilligenden Blick zu. Eine Kneipe war nichts für Kinder. Werdet nicht so wie diese da … Tom bestellte eine Cola. Der »Schwarze
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