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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie
Autoren: Jay Bonansinga
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passiert. An Tatorten arbeitete er für gewöhnlich mit der Präzision einer Maschine. Es geht vorüber, dachte er, es ist nur die dünne Luft.
    Die Gruppe näherte sich dem umgestürzten Behälter.
    «Das Opfer liegt gleich da vorne», erklärte Slater über die Schulter hinweg. Er tat so, als bemerkte er nicht, dass Grove mit einem Hustenanfall stehen geblieben war und sich schwankend an einen Baum stützte. «Der Gerichtsmediziner hat den Zeitpunkt des Todes vorläufig auf die Zeit zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens festgesetzt. Wir warten noch auf die ersten Laborberichte – »
    Das Licht wurde dunkler, und Grove taumelte vornüber.
    «Hey! Alles okay?» Slaters Stimme klang nur noch dünn in Ulysses’ Ohren, als käme sie aus weiter Ferne.
    Er klammerte sich an den Stamm einer Fichte. Der Wald drehte sich wild um ihn herum, so als säße er in einem Karussell. Als Groves Blick langsam wieder klarer wurde, sah er in einiger Entfernung die Leiche. Der Mann lag im Laub auf dem Rücken. Der Mörder hatte ihn in dieselbe Positur gelegt wie die anderen Opfer. Die schweren Arme des Mannes lagen leichenstarr über seiner Brust verschränkt, der eine etwas höher in die Luft gestreckt. Auf den feuchten Nadelteppich um die Leiche herum hatte sich eine Blutlache ergossen. An der Schädelverletzung waren pechschwarzes Blut und Gehirnteile zu einer krustigen Masse geronnen. Grove schätzte, dass die Wunde wie bei den anderen Opfern mit einem scharfen Gegenstand verursacht worden war. Dasselbe sich immer wiederholende Muster.
    «Grove? Ist alles in Ordnung?»
    Der Profiler versuchte etwas zu sagen, doch ein Schleier senkte sich vor seine Augen. Er stolperte, verlor das Gleichgewicht. Der Erdboden raste auf ihn zu und traf seitlich gegen seinen Kopf.
    Dann wurde alles schwarz.
    Schwarz und still.
    Die folgenden zwölf Stunden waren eine Tortur für Grove, vor allem weil die Ärzte im Loveland General keine ernsten physischen Krankheiten feststellen konnten. Sein Herz war gesund, sein Kreislauf in Ordnung, und die Computertomographie seines Gehirns zeigte keine Auffälligkeiten. Sein Zusammenbruch, der sich vor den Augen eines Dutzends abgebrühter Gesetzeshüter ereignet hatte, war Grove unendlich peinlich. Nach Ansicht der Ärzte war er vermutlich durch Stress ausgelöst worden. Aber das wollte Grove ihnen nicht abkaufen. Stress war ein Faktor, mit dem er jeden Tag lebte. Und so etwas war ihm noch nie passiert.
    Am Nachmittag hockte Grove die meiste Zeit in einem Privatzimmer auf der Kante seines Krankenbettes, beschäftigte sich mit einem Kreuzworträtsel und wartete darauf, entlassen zu werden. Ungefähr alle halbe Stunde kam eine Schwester, um Puls und Blutdruck zu messen. Die Ergebnisse waren beruhigend. Sein Herz schlug stetig sechzig Mal die Minute, der Blutdruck lag bei harmlosen 120 zu 80. Grove konnte es nicht erwarten, endlich entlassen zu werden. Er wollte diese Demütigung so schnell wie möglich hinter sich lassen und sich an die Arbeit machen. Aber es gab noch einen anderen Grund, warum er so schnell wie möglich rauswollte. Seine Frau war in einem Zimmer wie diesem gestorben – dasselbe gigantische Ungetüm von Bett, dieselben verblichenen Vorhänge, derselbe scheppernde Heizkörper an der Wand, dieselben summenden Monitore. Grove würde niemals vergessen, wie er über einen Monat lang Nacht für Nacht auf dem Sessel mit der harten Rückenlehne geschlafen hatte, während seine geliebte Hannah bei lebendigem Leibe vom Krebs zerfressen worden war.
    Kurz vor dem Abendessen krächzte eine Stimme aus dem winzigen Lautsprecher über dem Kopfende des Bettes: «Mr. Grove, hier ist Besuch für Sie.»
    Grove stand auf und zog das babyblaue Nachthemd zurecht, das seinen knochigen schwarzen Hintern freiließ. Dann ging er zur Tür und fragte sich, ob es wohl Lieutenant Slater war, der zu einem Anstandsbesuch gekommen war, oder einer von der Dienstaufsicht der State Police, der sich davon überzeugen wollte, dass von der Polizeitruppe niemand für Groves Zusammenbruch verantwortlich war. Grove blickte den Korridor hinunter, sah aber nur einige geschäftige Krankenschwestern und Ärzte.
    Plötzlich tauchte ein ihm vertrauter, grauhaariger Kopf hinter der Ecke des Schwesterntresens auf. Der Mann trug seinen Mantel über dem Arm, und aus seinem zerfurchten Gesicht sprach eine ungewohnte Verlegenheit.
    «Tom?», fragte Grove staunend. Während Geisel näher kam, krampfte sich Groves Magen zusammen. «Was zum Teufel
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