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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit
Autoren: Jodi Picoult
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einen Blick mit seinem Vater, dann rannten sie beide los, gefolgt von Samuel.
    Levi stand vor einem Hocker, auf dem Pferdedecken gestapelt waren, und darauf lag ein schlafendes Baby, in ein Männerhemd eingewickelt. »Ich … ich glaube, es atmet nicht.«
    Aaron trat näher. Es war schon lange her, daß er mit einem so kleinen Baby zu tun gehabt hatte. Die weiche Haut des Gesichtchens war kalt. Er kniete nieder und drehte seinen Kopf zur Seite, hoffte, daß sein Ohr ein Atmen wahrnehmen würde. Er legte seine flache Hand auf die Kinderbrust. Dann drehte er sich zu Levi um. »Lauf zu den Schuylers und frag sie, ob du ihr Telefon benutzen darfst«, sagte er. »Ruf die Polizei.«
    »So ein Blödsinn«, sagte Lizzie Munro zu dem diensthabenden Beamten. »Ich kümmere mich doch nicht um ein lebloses Baby. Schick einen Rettungswagen hin.«
    »Die sind schon da. Und haben einen Detective angefordert.«
    Lizzie verdrehte die Augen. Seit sie als Detective-Sergeant bei der Polizei des East Paradise Township war, wurden die Rettungssanitäter von Jahr zu Jahr jünger. Und dümmer. »Das ist eine medizinische Angelegenheit, Frank.«
    »Tja, irgendwas ist da jedenfalls nicht in Ordnung.« Der Lieutenant reichte ihr einen Zettel mit der Anschrift.
    »Fisher?« las Lizzie, verwundert über den Namen und die Straße. »Sind das Amische?«
    »Ich glaub, ja.«
    Lizzie seufzte und griff nach ihrer dicken, schwarzen Tasche und ihrer Dienstmarke. »Du weißt doch auch, daß das Zeitverschwendung ist.« In der Vergangenheit hatte Lizzie gelegentlich mit Jugendlichen von den Amischen der Alten Ordnung zu tun gehabt, die sich in einer Scheune getroffen hatten, um zu trinken und zu tanzen. Ein- oder zweimal war sie gerufen worden, um die Aussage eines amischen Geschäftsmannes aufzunehmen, bei dem eingebrochen worden war. Doch ansonsten hatten die Amischen kaum etwas mit der Polizei zu tun. Ihre Gemeinde lebte unauffällig inmitten der normalen Welt, wie eine kleine Luftblase, unberührt von allem anderen.
    »Fahr hin und nimm ihre Aussagen auf, ich revanchier mich auch dafür.« Frank hielt ihr die Tür auf, als sie aus dem Büro ging. »Ich besorg dir eine richtig schöne, dicke Straftat, in die du dich verbeißen kannst.«
    »Du mußt mir keinen Gefallen tun«, sagte Lizzie, aber sie mußte schmunzeln, als sie in ihren Wagen stieg und zur Farm der Fishers fuhr.
    Im Hof der Fishers standen ein Streifenwagen, ein Rettungswagen und eine Kutsche. Lizzie ging zum Haus und klopfte.
    Niemand öffnete, aber hinter sich hörte Lizzie eine sanfte, angenehm melodische Frauenstimme. Eine Amisch-Frau mittleren Alters in einem lavendelfarbenen Kleid mit schwarzer Schürze kam rasch auf Lizzie zu. »Ich bin Sarah Fisher. Kann ich Ihnen helfen?«
    »Ich bin Detective-Sergeant Lizzie Munro.«
    Sarah nickte ernst und führte Lizzie in die Sattelkammer, wo sich zwei Sanitäter über ein Baby beugten. »Was haben wir?«
    »Ein Neugeborenes. Betonung auf neu. Kein Puls, keine Atmung, als wir ankamen, und es ist uns nicht gelungen, den Kleinen zu reanimieren. Einer von den Farmarbeitern hat ihn gefunden, unter einer Pferdedecke und eingewickelt in ein grünes Hemd. Ich kann nicht sagen, ob es eine Totgeburt war oder nicht, aber irgendwer hat jedenfalls versucht, die Leiche zu verstecken. Ich glaub, einer von euren Leuten ist irgendwo bei den Ställen. Vielleicht kann der Ihnen mehr sagen.«
    »Moment mal – jemand hat dieses Baby zur Welt gebracht und dann versucht, es zu verstecken?«
    »Ja. Vor ungefähr drei Stunden.«
    Schlagartig war der schlichte Einsatz, der eigentlich einen Arzt verlangt hätte, komplizierter, als Lizzie gedacht hatte, und die Person, die am ehesten verdächtig war, stand nur einen Meter entfernt. Lizzie blickte zu Sarah Fisher hoch, die zitternd die Arme um sich schlang. »Das Baby ist … tot?«
    »Ich fürchte ja, Mrs. Fisher.«
    Lizzie öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, wurde jedoch von einem entfernten Geräusch abgelenkt, als würden Gerätschaften hin und her geschoben. »Was ist das?«
    »Die Männer sind mit dem Melken fertig.«
    »Melken?«
    »Diese Dinge …«, sagte die Frau leise, »müssen trotzdem getan werden.«
    Plötzlich empfand Lizzie tiefes Mitleid für sie. Das Leben legte für den Tod niemals eine Atempause ein; sie selbst sollte das besser wissen als die meisten. Sie legte einen Arm um Mrs. Fishers Schulter, nicht ganz sicher, in welcher psychischen Verfassung die Frau war, und sagte in sanfterem
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