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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit
Autoren: Jodi Picoult
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und her gerissen, ob er ihr die Wahrheit sagen oder ob er sie möglichst lange in Unwissenheit belassen sollte, was ihm lieber wäre. Er fuhr sich mit den Händen durch das strohfarbene Haar, so daß es in alle Richtungen stand. »Tja, also, sie haben ein Baby gefunden. Tot.« Er sah, wie sich ihre Augen weiteten, diese unglaublichen Augen, und dann sank sie auf einen der Küchenstühle. »Oh«, flüsterte sie benommen.
    Sofort war er neben ihr, hielt sie im Arm und flüsterte, daß er sie von hier wegbringen würde, sollte die Polizei doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Er spürte, wie sie sich gegen ihn lehnte, und einen Augenblick lang war Samuel überglücklich – nach so vielen Tagen, in denen er zurückgewiesen worden war. Doch dann erstarrte Katie und wich zurück. »Ich glaube, das ist nicht der richtige Zeitpunkt«, sagte sie streng. Sie stand auf und stellte die Gasflammen am Herd ab, verschränkte dann die Arme vor dem Bauch. »Samuel, es gibt tatsächlich einen Ort, an den du mich bringen sollst.«
    »Wohin du willst«, versprach er.
    »Ich möchte, daß du mich zu dem Baby bringst.«
    »Es ist Blut«, bestätigte der Gerichtsmediziner, der im Kälberverschlag vor einem kleinen, dunklen Fleck kauerte. »Und Plazenta. Nicht von einer Kuh, der Größe nach zu schließen. Hier hat jemand vor kurzem ein Baby geboren.«
    »Totgeburt?«
    Er zögerte. »Das kann ich ohne Autopsie nicht sagen – aber mein Gefühl sagt nein.«
    »Dann ist es einfach so … gestorben?«
    »Das hab ich auch nicht gesagt.«
    »Wollen Sie damit sagen, daß jemand dieses Baby absichtlich getötet hat?«
    Der Mann zuckte die Achseln. »Es ist wohl eher Ihr Job, das herauszufinden.«
    Angesichts der kurzen Zeitspanne zwischen Geburt und Tod lag die Vermutung nahe, daß die Mutter selbst die Tat begangen hatte. »Und wie? Stranguliert?«
    »Eher erstickt. Morgen müßte ich einen vorläufigen Autopsiebericht fertig haben.« Lizzie dankte ihm und entfernte sich vom Tatort, der jetzt von uniformierten Polizisten gesichert wurde. Plötzlich hatte sie es nicht mehr mit einem Fall von Kindesaussetzung zu tun, sondern mit einem möglichen Mord. Es gab genug Anhaltspunkte, um von einem Bezirksrichter die Genehmigung für die Entnahme von Blutproben zu bekommen, die die Täterin entlarven würden.
    Als die Stalltür sich öffnete, blieb sie stehen. Ein großer blonder Mann – einer von den Helfern auf der Farm – trat gemeinsam mit einer jungen Frau in das dämmrige Licht. Er nickte Lizzie zu. »Das ist Katie Fisher.«
    Sie war hübsch, eine dieser ländlichen Erscheinungen, bei denen Lizzie immer an frische Sahne und Frühling denken mußte. Sie trug die traditionelle Kleidung der Amischen der Alten Ordnung: langärmeliges Kleid mit schwarzer Schürze, die knapp unterhalb der Knie endete. Ihre Füße waren nackt und schwielig – Lizzie hatte immer gestaunt, wenn sie die jungen Amischen ohne Schuhe über Schotterstraßen laufen sah. Außerdem war die junge Frau so nervös, daß Lizzie ihre Angst förmlich riechen konnte. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind«, sagte Lizzie sanft. »Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
    Katie rückte näher an den stattlichen jungen Mann neben sich. »Katie hat letzte Nacht geschlafen«, sagte er. »Sie hat nicht mal gewußt, was passiert ist, bis ich es ihr erzählt habe.«
    Katie war von irgend etwas abgelenkt worden. Sie starrte über Lizzies Schulter hinweg in die Sattelkammer, wo die Babyleiche unter Aufsicht des Gerichtsmediziners weggebracht wurde. Plötzlich riß sie sich von Samuel los und lief aus dem Stall. Lizzie rannte ihr bis zur Veranda des Haupthauses nach. Lizzie beobachtete, wie die junge Frau versuchte, die Fassung zurückzugewinnen. Normalerweise hätte Lizzie das als Anzeichen für ein schlechtes Gewissen gedeutet – doch Katie Fisher war eine Amisch. Als Amisch konnte man in Lancaster County aufwachsen, ohne je eine Nachrichtensendung im Fernsehen oder einen Film gesehen zu haben, ohne Vergewaltigung und prügelnde Ehemänner und Mord. Man konnte ein totes Baby sehen und von diesem Anblick ehrlich und zutiefst erschüttert sein.
    Andererseits hatte es in den letzten Jahren jugendliche Mütter gegeben, die ihre Schwangerschaften geheimgehalten und das Neugeborene hatten verschwinden lassen. Jugendliche Mütter, die sich gar nicht darüber im klaren waren, was sie getan hatten. Jugendliche Mütter aller sozialer Gruppen, aller Religionen.
    Katie schlug schluchzend die Hände
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