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Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)

Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)

Titel: Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Autoren: Jessica Khoury
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Eio.
    Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll.
    »Ich will aufstehen«, sage ich.
    Eio hilft mir aus der Hängematte. Ich schwanke ein wenig und habe ein merkwürdiges Gefühl. Irgendetwas stimmt nicht mit mir, aber ich weiß nicht, was. Es erschreckt mich ein wenig, doch fürs Erste konzentriere ich mich aufs Gehen.
    »Glaubst du, wir können hier weg?«, frage ich Eio. »Alle diese Leute, die mich anstarren…«
    Er nickt, legt mir den Arm um die Taille und führt mich in den Dschungel. Ein paar Ai’oaner folgen, doch er gibt ihnen zu verstehen, dass sie uns allein lassen sollen. Ich höre mehrfach Gekicher, als wir das Dorf hinter uns lassen.
    »Mach dir nichts draus«, sagt er. »Du lebst, Pia. Du lebst! Ich dachte, ich hätte mich getäuscht und würde mir deinen Herzschlag nur einbilden. Aber Kapukiri hörte ihn auch. Und dennoch… Ich dachte, du würdest nie mehr aufwachen. Du würdest dich einfach davonschleichen.«
    »Hab ich aber nicht.« Ich überlege immer noch, wie das möglich ist.
    Ich stolpere erneut und greife Halt suchend nach dem Stamm einer Palme. Die Rinde ist sehr rau und ich ziehe meine Hand sofort zurück.
    Wir sehen es beide gleichzeitig und erstarren. Ich halte meinen Zeigefinger hoch und blicke mit offenem Mund darauf.
    Auf der Fingerkuppe balanciert ein einzelner roter Tropfen.
    Eio starrt eine ganze Minute lang darauf, dann flüstert er: »Pia… du blutest.«
    Ich kann nur sprachlos nicken. Das Blut pocht in meinen Schläfen, es dröhnt wie die ai’oanischen Trommeln. Der winzige Tropfen, so einfach, so leuchtend rot, ist das Faszinierendste, das ich je in meinem Leben gesehen habe. Und das Unmöglichste. Und das Allerschönste…
    Mein Gehirn scheint in einem dichten Nebel zu stecken, als es versucht das alles zu begreifen. Ich habe davon getrunken, da bin ich ganz sicher. Aber ich lebe. Es geht mir gut. Außer… dass ich blute. Aber was war mit Roosevelt? Ich dachte, ich müsste sterben… Die Antwort bricht wie die Sonne durch den Nebel.
    »Er war alt«, flüstere ich.
    »Was?« Eio gerät in Panik. Womöglich fürchtet er, dass ich trotz allem sterbe.
    »Er war alt, Eio. Das war alles. Er war hundert Jahre alt und alle diese Jahre haben ihn auf einen Schlag eingeholt.« Die weißen Haare in seinem Gesicht und an den Pfoten – natürlich. Warum hat Paolo das nicht erkannt? Warum habe ich das nicht erkannt? Roosevelt starb nicht an dem Elysia. Er starb an Altersschwäche.
    Und die Kaluakoa?
    Wir gehen weiter und meine Schritte werden immer sicherer. Dennoch stimmt irgendetwas nicht mit mir. Es ist fast so, als fehlte mir etwas, eine Hand oder ein Fuß, aber alle meine Gliedmaßen sind intakt.
    Ich denke zurück an jene Nacht am Feuer und an Kapukiris tiefe Stimme, als er die Geschichte erzählte. Der Legende nach tranken die unsterblichen Beschützer der Kaluakoa von dem Yresa und starben wie alle anderen… wenn sie die Fülle ihrer Jahre ausgeschöpft hatten.
    Wie Roosevelt.
    Alles wird plötzlich deutlicher, so als schaute ich schon eine ganze Weile durch ein Mikroskop, hätte aber eben erst die richtige Einstellung der Linse gefunden.
    »Sie starben an Altersschwäche«, sage ich staunend zu Eio, als der Fluss in Sicht kommt. »Durch das Trinken endete ihre Unsterblichkeit und sie nahmen ihr wahres Alter an. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht tranken sie und begannen von dem Tag an zu altern. Vielleicht lebten sie noch sechzig, achtzig Jahre weiter.«
    »Was?« Eio schaut mich zutiefst verwirrt an. »Ich verstehe nicht, was du meinst, Pia. Du… stirbst doch nicht?«
    »Doch. Nein. Ich meine, ja, ich bin gestorben, und nein, ich sterbe nicht. Das heißt, eigentlich schon. Ich bin gestorben. Es ist beides. Ein Kreis und eine Linie…« Er sieht aus, als würden ihm gleich die Augen aus dem Kopf fallen. Ich schüttle den Kopf und der Nebel lichtet sich vollends. »Also, ich glaube, die unsterbliche Pia ist gestorben. Übrig geblieben ist…« Die sterbliche Pia? Jemand ganz anderes?
    Endlich beginnt Eio zu begreifen. Vorsichtig schöpft er mit der Hand Wasser aus dem Fluss und wischt das Blut von meinem Finger. Dann schiebt er seine Finger zwischen meine und betrachtet sie. »Dann… bedeutet es… dass du jetzt bist wie ich?«
    »Ich glaube, ja«, flüstere ich, immer noch staunend. »Ich glaube, ja.«
    Er hebt unsere Hände, damit er mit seinen Fingern den Schwung meiner Lippen nachzeichnen kann. Seine Augen betasten mein Gesicht,
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