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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder
Autoren: Manfred Böckl
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Und dieses Büchlein barg, in unbeholfener Schrift und mit schwerfälligen Sätzen aufgezeichnet, die Geschichte der Bergbauernfamilie.
    Die erste Buchseite berichtete von jenem hoffnungsvollen Tag des Jahres 1648, als die Kunde von dem in Westfalen geschlossenen Frieden {1} ins Tal des Schwarzen Regen gelangt war und den Menschen nach dreißig Metzeljahren wieder Hoffnung geschenkt hatte. Damals war der Grundstein des Einödhofes gelegt worden, und im Frühsommer darauf hatte man das Richtfest feiern können. Zwei Generationen später sodann, kurz nachdem sich das siebzehnte Jahrhundert ins achtzehnte gedreht hatte, waren die bittere Not und die bestialische Grausamkeit des Religionskrieges nur noch düstere, allmählich verweichende Erinnerung.
    Denn Aufschwung und Wohlstand, wenn auch deutlich bescheidener als in den Städten des Flachlandes, waren nun im Waldgebirge eingekehrt. In so mancher Ansiedlung glühte jetzt Tag und Nacht der Feuerschein hinter den Bohlenfenstern der Glashütten, und die Pferdefuhrwerke, welche die Rosenkranzkugeln, Trinkgefäße und Butzenscheiben in die Metropolen des Kaiserreiches brachten, legten weite Wege zurück. Die Gespanne zogen nach Regensburg, Nürnberg, Prag und Wien; sie fuhren bis ins Rheinland hinüber und gelegentlich sogar hinauf zu den Nord- und Ostseeküsten – und wenn die Fuhrleute von ihren oft monatelangen Reisen heimkehrten, dann brachten sie fremdartige, nie zuvor gesehene Güter mit: geklöppelte Stoffe aus Brüssel, schweres Wolltuch aus Flandern, metallbeschlagene Bibeln aus Köln, goldene Rudolphsdukaten von der Moldau, Wolfsklingen der Passauer Waffenschmiede und aus den Alpen das Herzkreuz des Steinbocks {2} , welches in dem Ruf stand, außerordentliche magische Kräfte zu besitzen.
    Jedesmal wenn die Frachtwagen von ihren Fernfahrten ins Waldgebirge zurückkamen, spielten in den Steinhäusern der reichen Glasherren die Musikanten mit Fideln, Flöten und Drehleiern auf. Aber auch die einfachen Menschen, welche in den Dörfern und Weilern oder auf ihren Einschichthöfen lebten, bekamen nun manchmal Braten und Wein zu schmecken und brauchten sich zu dieser Zeit nicht so hart wie die Ahnen auf ihren zumeist kargen Ackerbreiten zu schinden.
    Und wieder gingen viele Sommer und Winter über die Bergwälder hin; abermals sanken drei Generationen in ihre Gräber, und das Ende des achtzehnten Jahrhunderts nahte. Noch immer wurden die Öfen in den Glashütten geschürt, doch langsam kündigte sich ein Niedergang an – und während dies geschah, spießte das Volk jenseits des Rheins, in Frankreich, die abgeschlagenen Köpfe der Adligen auf die Lanzenspitzen der Revolution. Ein jäh auf den Thron gelangter französischer Kaiser, kleinwüchsig und mit gelben Augäpfeln, legte seine Faust schwer auf Europa. Austerlitz und Tilsit, wo Napoleon siegte; dann Moskau, die Beresina und Waterloo, wo das Kriegsglück des Korsen ins Debakel umschlug, waren nicht bloß unbekannte Namen für die Bewohner des auf der Bodenwelle am Regenfluß stehenden Einödhofes. Das in Schweinsleder gebundene Büchlein kündete jetzt von einem nachgeborenen Sohn, einem bayerischen Dragoner, welcher auf der Flucht vor den Kosaken des Zaren im Eiswasser der Beresina ertrunken war; im selben russischen Strom, den Napoleon nach schwerer Niederlage noch einmal ungeschoren überquert hatte – und so hatte der Größenwahn des Korsen auch auf dem alten Anwesen unweit des Arbermassivs seinen schrecklichen Tribut gefordert.
    Aber weitere Geschlechter wurden im Schutz der schenkelstarken Tannenbalken des einsamen Gehöfts am Schwarzen Regen geboren; in unabänderlichem Wechsel kamen Wiege und Sarg zu ihrem angestammten Recht. Und neue Bauerngenerationen vertrauten den vergilbten Blättern des alten Buches all jene außergewöhnlichen Geschehnisse jenseits der alltäglichen Mühsal an, von denen sie besonders bewegt oder getroffen wurden.
    Im Jahr 1848 entrüstete man sich auf dem Einödhof über Lola Montez, die irische Mätresse des cholerischen Königs in München – und trauerte heimlich, als Ludwig I. infolge der Skandale, die von seiner Liaison mit der schönen Tänzerin ausgelöst worden waren, wütend abdankte. Die Trauer um den Enkel des genannten Monarchen hingegen, der Anno 1886 unter geheimnisumwitterten Umständen und womöglich als Opfer eines infamen Mordanschlags im Starnberger See starb, brauchte nicht verheimlicht zu werden. Der Waldbauer, der in dieser Zeit das Anwesen bewirtschaftete,
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