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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder
Autoren: Manfred Böckl
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Heuschreckenjägers hatte die im Untergrund zwischen den Felsklötzen verborgene Wasserader mit Hilfe seiner Wünschelrute aufgespürt, sie freigegraben und das Mauerwerk des Brunnens über ihr errichtet. Danach hatten er und die Seinen tagtäglich das frische, lebensspendende Naß aus dem Brunnenkorb geschöpft; auch die folgenden Generationen der Hofbewohner hatten es so gehalten, und über mehr als ein Jahrhundert hinweg war der Quellstrom selbst in den heißesten Sommern nicht versiegt. Doch das Paar, das jetzt auf dem einschichtigen Anwesen im Tal des Schwarzen Regen vegetierte, hatte die Brunnensohle seit dem Hereinbrechen der Umweltkatastrophe alle paar Monate tiefer ausschachten müssen. Denn seit die Wälder gestorben waren, sank der Grundwasserspiegel rapide; beleidigt schien die einst so ergiebige Quellader die oberflächennahen Schichten der geschundenen Erde zu fliehen.
    Als der Einöder und sein Weib unter die Felsen traten, mußten sie sich eng zusammendrängen, um ganz an den Rand der runden Brunnenmauer heranzukommen. Dort griff der Mann mit beiden Händen nach der verrosteten Kette, welche über eine hölzerne Rolle lief, die an einer Art Galgen hing; die Frau umfaßte den schweren, auf der Rundmauer stehenden Eisenkübel und schob ihn über die Kante der Brunneneinfassung. Langsam ließ der Einödbauer den Eimer an der Zugkette nach unten gleiten; Meter um Meter verschwand die braunrot überkrustete Kette im Brunnenschacht – endlich, als der Alte nur noch ein kurzes Kettenstück übrig hatte, drang ein schmatzendes Glucksen aus der dunklen Tiefe empor. Ein Gurgeln folgte; der Einödbauer wartete eine Weile ab, dann holte er den Eisenkübel mühsam wieder herauf. Als die Frau den Eimer mit Unterstützung ihres Mannes auf den Brunnenrand hievte, sahen beide, daß der Kübel nur zur Hälfte gefüllt war; außerdem roch das Wasser faulig nach Schwefel, und über dem Eimerboden schwebte eine dicke, schmutzfarbene Sandschicht.
    Trotzdem machte der Einöder sofort Anstalten, aus dem Kübel zu trinken. Aber mit dem nächsten Lidschlag besann er sich. Er erinnerte sich daran, daß er sein Weib vorhin im Haus allzu schroff behandelt hatte; jetzt bereute er es – und deshalb verzog er die ausgedörrten Lippen zu einem dünnen Lächeln und bedeutete seiner Frau mit einer Geste, daß sie ihren Durst als erste stillen sollte.
    Die Alte beugte sich über den Eimer, schöpfte mit hohlen Händen Wasser; schlürfte schnaufend und mit gierigen Zügen die nach faulen Eiern schmeckende Flüssigkeit. Dann, als sie sich satt getrunken hatte, kniete sie nieder und sandte, während nun auch ihr Mann seinen Durst löschte, ein stummes Dankgebet zu den tief treibenden, gelbgeränderten Wolkentürmen empor.
    Danach trug das Paar den Kübel ins Wohnhaus, und beide wußten: Das Wasser, das sich noch im Eimer befand, mußte bis zum nächsten Tag ausreichen, denn heute würde der Brunnen nichts mehr hergeben.
    Gepreßt atmend erholten sich der Einödbauer und sein Weib von der Anstrengung des Wassertragens – und dies dauerte in der jetzt plötzlich sehr dünnen Luft geraume Zeit. Irgendwann dann rafften sich die beiden Alten erneut auf und schleppten sich abermals ins Freie. Ihr Ziel lag ein Stück nordwestlich des Anwesens, wo der Talboden zu einer Bergflanke hin anstieg. Dort hatte sich früher dichter Forst erstreckt, und auch wenn die Bäume längst von Wirbel stürmen niedergeworfen worden waren, gab es im ausgelaugten Boden unter den toten, skelettierten Baumstämmen doch noch die Wurzelstränge, welche in ihren abgestorbenen Kapillaren einen Rest Feuchtigkeit bewahrt hatten.
    Mühsam brachen und rissen der Mann und die Frau kleinere Baumwurzeln aus dem Steingrus oder aus vertrockneter, ziegelhart zusammengebackener Erde; es dauerte bis zum Einbruch der Abenddämmerung, ehe sie einen alten Korb mit dem zähen Wurzelwerk gefüllt hatten, das ihnen als Grundnahrung diente. Dann, eben als das Paar den Heimweg antreten wollte, wurde im Norden, über den nackten Felsflanken des Arbermassivs, ein hohles Pfeifen laut und schwoll rasch zu bedrohlichem Heulen an. Dies geschah fast jeden Abend, wenn die Sonne sank; der Sandboden im Flußtal kühlte beim Schwinden der Sonnenglut schneller als das Arbergestein ab – und die Folge war, daß atmosphärische Turbulenzen entstanden, welche die dünne Luft aus den Höhenlagen in die Niederung saugten.
    Vom Sog der Fallwinde getrieben und gepeitscht hasteten der Einöder und sein Weib
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