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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder
Autoren: Manfred Böckl
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deutschen und europäischen Geschichte aufgezeichnet; von Säkulum zu Säkulum war eine Buchseite um die andere gefüllt worden – nun aber fand die Kunde von der Endzeit keinen Niederschlag mehr auf den wenigen noch leeren Blättern.
    Dem letzten Bauern auf der einschichtigen, unweit des Arbermassivs gelegenen Hofstätte fehlten die Spannkraft und dazu die Worte, um das Sterben der Landstriche zwischen Lusen, Rachel und Arber zu beschreiben. Nie brachte der Einöder es über sich, das alte Büchlein, in dem er in seinen jüngeren Jahren oft gelesen hatte, noch einmal zu öffnen; nie konnte er sich aufraffen, nach dem von seinem Vater ererbten Füllfederhalter zu greifen, welcher bei dem Buch mit dem Schweinsledereinband lag. Statt dessen tappte der letzte Hofeigentümer bisweilen, wenn er die auf ihm lastende seelische und körperliche Lähmung einmal abzuschütteln vermochte, tonlos murmelnd unter den schenkelstarken Balken der Stubendecke herum: ein stumm gewordener Geschlagener, dem nur noch eine dumpfe und kaum mehr greifbare Ahnung von jener urwüchsigen bäuerlichen Lebenskraft geblieben war, dank derer die vielen Generationen seiner Vorfahren ihr Dasein gemeistert hatten.
    Das Grauen des Waldtodes hatte den letzten Einödbauern, der einzig noch instinktiven, animalischen Überlebensdrang besaß, emotional verstummen lassen – und mit ihm verstummten auch die Botschaften, welche das abgegriffene, von Menschenalter zu Menschenalter fortgeschriebene Büchlein beinhaltete. Schließlich dann verschwand das ledergebundene Buch zwischen abgelegten Kleidern, angeschlagenem Geschirr und sonstigen unbrauchbar gewordenen Gegenständen in einer Rumpelkammer, und in der Folge geriet es in Vergessenheit.
    Denn dies war nicht mehr die Zeit für schriftliche Aufzeichnungen und Erinnerungen, die einer untergegangenen Welt angehörten – jetzt lag die Erde in Agonie, und dies bedeutete: Der letzte Waldbauer und sein Weib fristeten ein Dasein von archaischer, steinzeitlicher Mühsal.

Die zweite Vision
Die Heuschrecken
     
    Der einschichtige Hof am Schwarzen Regen, gegründet nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, war weit und breit das einzige Anwesen, auf dem noch Menschen lebten. Der letzte Einödbauer und sein Weib hatten es nicht geschafft, das Land zu verlassen, in dessen Erde zwölf Generationen ihrer Vorgänger ruhten. Doch das Paar hatte den Entschluß, zu bleiben, nicht mit klarem Kopf und als bewußte Entscheidung getroffen. Denn die Gehirne des betagten Mannes und seiner Gefährtin arbeiteten aufgrund des ständigen Sauerstoffmangels im einstigen Waldgebirge nur noch mit schwerfälliger Trägheit. Die Gedanken kamen verschwommen und dumpf; sie ähnelten wabernden, nicht wirklich greifbaren Träumen, welche gleich Schemen in dunklem Wasser langsam durch halbklares Bewußtsein glitten.
    Immerhin aber war das Bewußtsein des Einöders und seines Weibes nicht gänzlich erloschen. Zumindest rudimentär hatte es sich erhalten: schwer, erdig und an der Scholle klebend in einer Umwelt, in der es keine Scholle mehr gab; vielleicht eben deswegen. Zäh hing das Paar an der Erde, die längst zu sterilem Stein geworden war. Die beiden Alten waren noch immer da; ähnlich wie zwei knorrige Wurzelstöcke, die man aus dem Boden gerissen, dann jedoch an Ort und Stelle gelassen hatte. Und so, entwurzelt und trotzdem irgendwie noch immer mit ihrem Ursprung verbunden, vegetierten der Einödbauer und sein Weib in stetem, oft verzweifeltem Überlebenskampf dahin.
    An diesem Morgen aber lag ein kaum wahrnehmbarer Geruch in der dünnen Luft, welcher das Denken und Empfinden des betagten Paares etwas wacher werden ließ. Eine Ahnung von dichterer Atmosphäre wehte gelegentlich mit dem Südwind durch die offenstehenden Fenster ins Haus, und die substantielleren Luftwellen erlaubten den beiden Alten dann jeweils eine Reihe relativ befreiter Atemzüge, ehe ihre Lungen sich wieder unbefriedigt blähen mußten.
    Während das Geschenk der in leichten Schwaden hereinpludernden und wieder verweichenden Sauerstoffluft sie ein wenig belebte, saßen der Einödbauer und sein Weib vor einer weißemaillierten Blechschüssel mit abgewetztem blauen Rand am Küchentisch. Die knotigen Finger des Mannes und der Frau griffen in regelmäßigem Rhythmus in die Schüssel: tasteten nach Stücken ledrigen Wurzelwerks, welches die Alten am Vortag aus krustigem Sand gegraben hatten, und fischten zuweilen etwas gieriger nach Sauerampfer, der da und dort noch
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