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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder
Autoren: Manfred Böckl
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Verwüstung war von der Windhose verursacht worden, unter deren jähem, tückischem Ansprung sein Weib das Leben verloren hatte.
    Haltlos weinend brach der Grauhaarige über der Leiche zusammen. Es dauerte lange, bis er sich soweit gefaßt hatte, daß er imstande war, seiner Frau die noch immer wie in grauenhaftem Schrecken aufgerissenen Augen zu schließen. Danach hockte der Einöder Stunde um Stunde reglos und wie gelähmt neben der Toten; erst als der fast volle Mond hoch am Firmament stand, löste er sich aus seiner betäubten Erstarrung und dachte dumpf: Sie darf nicht so liegenbleiben… Ich muß sie begraben…
    Mit bloßen Händen begann er den Grund der ausgetrockneten Flußrinne aufzuwühlen; gegen Mitternacht hatte er die flache Grube fertig und zog den Leichnam seines Weibes so behutsam wie möglich hinein. Als er es geschafft hatte und sich schluchzend wieder aufrichtete, bemerkte er, daß der Schein der jetzt im Zenit stehenden Mondscheibe direkt auf das Antlitz der Toten fiel. Dadurch bekamen die starren Gesichtszüge der Frau einen zutiefst entrückten, fremdartigen Ausdruck; plötzlich fürchtete sich der Alte und machte Anstalten, das Grab hastig zuzuschütten. Schon hatte er einige Sandschwaden über das wächserne Antlitz gescharrt – aber dann, als das Gesicht der Toten nicht mehr so genau kenntlich war, hielt der Einödbauer auf einmal inne, denn unvermittelt hatte er sich an den Rucksack erinnert, der in der Küchenstube des Hauses beim Eßtisch stand.
    „Du sollst dein Geschenk bekommen… trotz allem“, flüsterte er in die Grube hinab; gleich darauf verließ er die offene Grabstätte und ging zum Hof hinauf. Im Flur des Wohnhauses fand er eine blecherne Laterne und entzündete die Kerze darin; sodann betrat er den Küchenraum, öffnete den Riemensack und nahm den stählernen Sauerstoffbehälter heraus.
    Langsam, die Druckflasche wie ein Kind an der Brust bergend, schritt der Grauhaarige wieder zum Grab hinunter. Dort ließ er die Stahlkartusche zu Boden gleiten und stellte die Laterne, deren Bügel er bis dahin zwischen den Zähnen gehalten hatte, zu Häupten seines Weibes nieder. Ein paar keuchende Atemzüge lang verharrte er wie in stummem Gebet; dann sank er auf die Knie, umfaßte den Sauerstoffbehälter erneut, hob ihn in die Grube und legte ihn vorsichtig auf dem Oberkörper der Toten ab.
    Rund und prall lastete die Stahlflasche, welche der Einöder unter solch großen Opfern ins Steingebirge gebracht hatte, auf dem eingefallenen Brustkorb der Frau; plötzlich schien ein seufzender Hauch aus dem leicht geöffneten Mund der Leiche zu dringen, und der tote Leib schien ein klein wenig in sich zusammenzusinken – beinahe so, als hätte sich ein letzter Rest des dem Körper einst innewohnenden Geistes erst jetzt von der vergänglichen irdischen Hülle befreit.
    Doch der Alte hatte nichts davon bemerkt; neuerlich war er im Rädern seiner trostlosen Gedanken gefangen: Daß er seinem Weib den erlösenden Odem nur noch ins Grab hatte mitgeben können; daß all die Mühsal, die er um der Liebe zu seiner Frau willen auf sich genommen hatte, sinnlos gewesen war; daß der Dank, den er ihr für vierzig Jahre des geduldig an seiner Seite ertragenen Leids hatte abstatten wollen, zu spät gekommen war.
    Irgendwann schließlich fand der Grauhaarige die innere Kraft, die Grube zuzuscharren. Der Leib seines Weibes verschwand unter Sand und Steingrus; ebenso die Metallkartusche, und am Ende wölbte sich ein flacher, dürftiger Hügel über der Grabstätte im ausgedörrten Flußbett des Schwarzen Regen auf.
    Wie abschiednehmend berührte der Einödbauer noch einmal den kläglichen Grabhügel; sodann griff er nach der Laterne, in deren Blechgehäuse der erlöschende Kerzenstumpf flackerte, und schleppte sich zum Anwesen zurück.
    Dort suchte der Alte nach dem Buch im rissigen Ledereinband. Nachdem er es gefunden hatte, setzte er sich, während draußen fahlgelb der Morgen graute, an den Eßtisch in der Küchenstube. Mit einem Bleistiftstummel, den er aus der Tischschublade hervorkramte, trug der Einöder den Tod seiner Frau in das Büchlein mit den vergilbten Seiten ein; schrieb mit einigen wenigen, unbeholfenen Sätzen auf, was geschehen war.
    Als er es geschafft hatte, verwahrte er das Buch unter seinem Mantel und dem zerschlissenen Hemd auf der nackten Brust – im nächsten Moment überwältigte ihn lähmende Müdigkeit, und er schlief, über der Tischplatte zusammensinkend, ein.

Die letzte
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