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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder
Autoren: Manfred Böckl
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Stadtkern zu, verschwunden, und dies hieß, daß der Glotzäugige und der Schwarzuniformierte die Jagd aufgegeben hatten.
    Mit zitternden Händen erweiterte der Grauhaarige den Sicht- und Luftspalt ein wenig; er wagte es jedoch nicht, aus der Erdhöhle zu kriechen. Vielmehr blieb er, von immer wieder aufflackernder, nun eher irrationaler Angst gepeinigt, noch den ganzen Tag in der Grube. Erst als sich die Schatten des Abends über die Kluft senkten, arbeitete er sich ins Freie, zerrte seinen Rucksack aus dem Erdloch, schulterte ihn und setzte seine Flucht nach Norden fort.
    Im Schutz der Dämmerung und dann der vom fahlen Mondlicht erhellten Nacht wanderte er unentwegt dahin; zuerst auf der geborstenen, da und dort von Sanddünen bedeckten Teerstraße, später entlang des ausgetrockneten Flußbetts, das ins Steingebirge hineinführte. Zunehmend quälte ihn das Gewicht der Stahlkartusche in seinem Riemensack; immer wieder begannen seine Lungen zu pfeifen, aber er schleppte sich weiter und weiter – bis ihn im Morgengrauen der Randsog einer jäh heranrasenden Windhose von den Beinen riß und ihn gegen einen Felsblock schmetterte.
    Der Alte verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, begriff er, daß er stundenlang ohnmächtig dagelegen haben mußte, denn die Sonne, die von schwefelgelb geränderten Wolken verhüllt war, stand jetzt bereits hoch am Firmament. Mühsam raffte sich der Grauhaarige auf und suchte, weil er von brennendem Durst geplagt wurde, nach Wasser. Nach einiger Zeit entdeckte er einen algenverschleimten Tümpel und trank gierig; danach aß er ein paar Bissen von den Nahrungsmitteln, welche er im Ratskeller der Donaustadt in seine Manteltaschen gesteckt hatte.
    Als er seinen Weg fortsetzte, schmerzten ihn die Schürfwunden, die er sich beim Aufprall auf den Steinklotz zugezogen hatte; zudem befiel ihn nun erneut die Furcht, daß der Flügler noch einmal auftauchen könnte. Deshalb bemühte er sich jetzt, stets in der Deckung der Steilufer des verschwundenen Flusses zu bleiben. Doch seine Angst war unbegründet; den ganzen Tag über ereignete sich nichts Bedrohliches, und als sich neuerlich die Abenddämmerung über das verwüstete Bergland senkte, durfte sich der Alte mit dem Gefühl, nun wirklich in Sicherheit zu sein, seine einfache Lagerstätte herrichten.
    Während der nächsten Tage stieg der einsame Wanderer höher und höher ins Steingebirge hinauf. Immer seltener dachte er an die Männer, die ihn gejagt hatten, und irgendwann erinnerte er sich nur noch dunkel an die tödliche Gefahr, der er ausgesetzt gewesen war. Es kam ihm jetzt manchmal so vor, als sei alles bloß ein schlimmer Alptraum gewesen; ein Alptraum, dessen Schrecken mehr und mehr verwichen – und die Ursache für diese dumpfe, indifferente Empfindung lag in den fürchterlichen körperlichen Anstrengungen, welche der Grauhaarige nun wieder zu bewältigen hatte.
    Ganz wie auf seinem wochenlangen Marsch vom Einödhof am Schwarzen Regen hinunter in die Donauebene mußte sich der Alte das Vorwärtskommen unter größten Schwierigkeiten erkämpfen. Der Aufstieg in die Höhenlagen des Berglandes war extrem kräftezehrend; keuchend wankte der Grauhaarige dahin, und die Last seines Rucksacks wurde ihm oftmals zur beinahe unerträglichen Pein. Wenn die Atemnot des Alten, welche durch die dünne, sauerstoffarme Luft im toten Gebirge hervorgerufen wurde, in fast asthmatische Anfälle umschlug, konnte es passieren, daß der Grauhaarige taumelnd auf den sterilen Erdboden niedersank und dann lange brauchte, bis er sich wieder aufzurichten vermochte. Hinzu kam schon bald beißender Hunger, denn die wenigen Lebensmittel, welche der Alte bei sich gehabt hatte, waren rasch verbraucht. Um zu überleben, mußte er jetzt von neuem den Heuschreck jagen oder verrottetes Wurzelwerk aus der verkarsteten Bodenkrume graben, und wenn er seinen Durst stillen wollte, war er auf die Faulwassertümpel oder auf den sauer schmeckenden morgendlichen Tau angewiesen, den er von irgendwelchen Steinen ableckte.
    So hielt sich der Wanderer notdürftig am Leben und glitt auf diese Weise allmählich wieder in das fast animalische Vegetieren seines früheren Daseins hinein: in das des Einöders, der ebenso wie sein ausgezehrtes Weib gelernt hatte, sich selbst in der äußersten existentiellen Not irgendwie zu behaupten. Und weil der Grauhaarige dazu imstande war, erreichte er schließlich jene Bergregion, wo das ausgedörrte Flußtal des Schwarzen Regen in die
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