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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder
Autoren: Manfred Böckl
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und wieder glitt seine hagere Hand fahrig über das zerkerbte Holz der Tischplatte; Erinnerungen durchzuckten sein Gehirn: Wie er hier gemeinsam mit seiner Frau die kargen Mahlzeiten eingenommen hatte; wie er nächtens in dem ledergebundenen Buch gelesen hatte, das von seinen Vorfahren auf ihn gekommen war.
    In jener Nacht, da er die Aufzeichnungen in dem schweinsledernen Büchlein entziffert hatte, war der Entschluß in ihm herangereift, zur Donaustadt zu wandern, um seinem Weib den Odem zu bringen. Und er hatte seinen Vorsatz in die Tat umgesetzt; er hatte all die Gefahren gemeistert, die ihm begegnet waren; hatte sich zudem in den Festsälen der Stadtherrscher erniedrigen lassen und als Narr für die Machthaber gegaukelt, bis es ihm zuletzt geglückt war, die Druckflasche an sich zu bringen und mit ihr aus der Stadt zu fliehen. Das alles hatte er für seine Frau getan, und oft hatte er sich während des Rückmarsches zum Schwarzen Regen ausgemalt, wie es sein würde, wenn er seinem Weib das Atemgeschenk überreichte. Diese beglückende Vorstellung hatte ihm die Kraft vermittelt, den Jägern im Flügler, den Windhosen und den vielen sonstigen Heimsuchungen zu trotzen, denen er ausgesetzt gewesen war. Allein diese Vorstellung hatte ihn all das Fürchterliche ertragen lassen; aufs inständigste hatte er den Augenblick herbeigesehnt, in dem er seiner Frau den Odem darbringen würde – und jetzt, da er die Küchenstube und die Schlafkammer leer vorgefunden hatte, empfand er tiefste Enttäuschung und lähmenden seelischen Schmerz.
    Verstört saß er da; sein Denken drehte sich rädernd im Kreis, und er wußte zunächst nicht, was er nun weiter tun sollte. Endlich aber ermannte er sich, stand mit unsicheren Bewegungen auf und entledigte sich des Rucksacks. Sehr behutsam stellte er den Riemensack mit der Metallkartusche neben dem Tisch ab; danach schleppte er sich ins Treppenhaus hinaus und erklomm die Stiege, die in den Oberstock hinaufführte. Einen nach dem anderen durchsuchte er die Räume unter dem Dach; doch auch dort – er hatte es ohnehin geahnt – fand er sein Weib nicht.
    Schließlich kehrte er in die Küchenstube zurück, tappte zu einem der Fenster und starrte durch die halbblinden Scheiben ins Freie hinaus. Der Hang, der sich leicht zum Flußbett hin absenkte, war vom unwirklichen, rötlich-gelben Lichtschein der sinkenden Sonne übergossen; ein paar Kilometer entfernt, dem Arber zu, schien sich ein Windwirbel aufzubauen – und kaum hatte der Einöder die sich schlängelnde Staubsäule erblickt, wurde ihm plötzlich klar, daß seiner Frau ein Unglück zugestoßen sein mußte.
    Er glaubte sie vor sich zu sehen, wie sie irgendwo dort draußen lag; von Atemnot oder einem Schwächeanfall überwältigt, vielleicht auch mit einem gebrochenen Bein. Er vermeinte, ihr hilfloses Stöhnen zu hören; unter rauhem Aufschluchzen stieß er ihren Namen hervor – und im nächsten Moment hastete er aus der Stube.
    Auf dem Vorplatz des Hauses witterte er gleich einem Tier in die verschiedenen Himmelsrichtungen; auf einmal erstarrte er, spähte angestrengt zum ausgetrockneten Flußbett hinab, gehorchte seinem Instinkt und lief los. Einige hundert Meter östlich der Stelle, wo er bei seiner Heimkehr das Trockenbett verlassen hatte, um den Weg zur Hofstätte abzukürzen, erreichte er die ausgedörrte Flußrinne. Doch dort gewahrte er nichts Ungewöhnliches; er sah nur Steinbrocken und verkrustete Sandfladen, über welche da und dort ein Heuschreck hüpfte.
    Verwirrt schaute der Alte nach links und rechts; dann – es war ihm, als hätte ihn eine leise, flehende Stimme gerufen – zog es ihn nach Westen: dorthin, wo der riesige Granitrundling im toten Flußbett lag, den er als Junge erklommen hatte, um auf seiner farnbewachsenen Kuppe von exotischen Welten zu träumen.
    Mit pfeifenden Lungen gelangte der Grauhaarige zu dem doppelt mannshohen Rundfelsen. Keuchend sah er sich um; als er auch hier nichts Außergewöhnliches erblickte, ging er um die mächtige Steinkugel herum – und ein Stück hinter dem Granitrundling fand er sein Weib.
    Die alte Frau lag in der Nähe eines schleimbedeckten Tümpels. Ihr Körper wirkte seltsam verkrümmt, wie zerbrochen; der rechte Arm war ausgestreckt, und die Finger hatten sich in den rissigen Boden gekrallt, als hätten sie noch in der Agonie des Todes etwas packen oder festhalten wollen. Rings um den Leichnam war die Sandkruste tief aufgewühlt, und der Einödbauer begriff: Diese
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