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Die Einöder

Die Einöder

Titel: Die Einöder
Autoren: Manfred Böckl
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klebte einen Scherenschnitt des Einsamen von Neuschwanstein in das nun schon seit zweihundertachtunddreißig Jahren existierende Büchlein; darunter malte er sorgsam Namen und Titel des Unglücklichen: Ludwig IL, König von Bayern.
    Die Schwiegertochter jenes Hofeigentümers wiederum verwahrte in dem uralten Buch die seltenen Feldpostbriefe ihres Gemahls, welcher als einfacher Soldat an der Somme, später bei Verdun lag – und dort im Frühjahr 1916, als sich die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges zum mörderischen Inferno steigerten, von einer Mörsergranate zerfetzt wurde.
    Bald danach kamen die Flietschen in Umlauf; ganz so, wie es eineinhalb Jahrhunderte zuvor der Waldprophet Mühlhiasl vorhergesagt hatte. Die neuen Geldscheine des „Tausendjährigen Reiches“ zeigten einen graphisch mißglückten Adler, welcher einer Flietsche ähnelte: einer Fledermaus – und damit jenem Nachttier, das von jeher in dem Ruf gestanden hatte, über die Schläfer herzufallen, um ihnen das Blut aus den Adern zu saugen. Und blutsaugerisch und vampirisch waren jene zwölf Jahre, in denen das Hakenkreuz triumphierte, in der Tat; Hitler und seine NSDAP stürzten die Menschheit in den Abgrund des Zweiten Weltkrieges und mästeten ihre Mordlust auch an der Lebenskraft des Bergbauernhofes. Die Sterbebilder zweier Söhne der Familie fanden ihren Platz in dem abgegriffenen Buch; von dem einen Waldbauernsohn blieb nur ein hastig geschaufeltes Grab mit Birkenkreuz und Stahlhelm in den Ardennen, vom anderen noch nicht einmal eine solch dürftige Erinnerungsspur im Inferno von Stalingrad. Und als sich im zeitigen Frühjahr 1945 der endgültige Zusammenbruch der Hitlerdiktatur ankündigte, da pflügten die Frauen des einschichtigen Hofes am Schwarzen Regen ihre verunkrauteten Felder mit Hilfe der letzten Kuh.
    Doch wiederum ging das Leben, wenn auch unter zwiespältigen Auspizien, weiter. Mit Bulldozern von jenseits des Atlantiks wurde das Waldgebirge wirtschaftlich aufgebaut und zugleich in seiner jahrtausendelang gewachsenen Substanz geschädigt. Television brachte den Menschen die ferne Welt näher, entfremdete ihnen aber gleichzeitig die Heimat. Und in das alte Büchlein fand der Brief eines Auswanderers Eingang, der nun in den scheinbar unerschöpflichen kanadischen Forsten das Holz im Akkord schlug.
    Geschlagen wurden die Wälder auch im Landstrich zwischen Lusen, Rachel und Arber. Schnellstraßen zernarbten das Mittelgebirge bis ins Mark; Seilbahnen und Skilifte zwängten es in ein stählernes Korsett. Die einstmals ungebändigt dahinströmenden Quellbäche verschwanden in künstlichen Rohrleitungen, und aus dem Geäst der Tannen, Eichen, Buchen, Linden, Ahorne und Birken verschwanden die Eichkätzchen und Waldvögel. Die letzten domestizierten Bären, Wölfe und Luchse hielt man in eingezäunten Gehegen gefangen, und den kopfgroßen Baumschwamm, aus welchem die ärmeren Leute früher ihre Hüte angefertigt hatten, suchte man bald vergebens in den Forsten.
    Denn überall wucherten jetzt die sterilen Fichtenplantagen: die schnell und gleichförmig aufschießenden Profitwälder, von denen sich ein neokapitalistisch orientiertes Wirtschaftssystem optimalen Gewinn versprach – und je weiter sich das Geschwür der verderblichen Profitsucht ausbreitete, desto verheerender wurde die einst so unerschütterliche Lebenskraft des Waldgebirges getroffen; desto ärger litt sein innerstes Wesen: sein vom Göttlichen erfüllter Geist.
    Und dann, zwölf Menschenalter nachdem der Erbauer des Einödhofes am Schwarzen Regen auf der ersten Seite des Buches mit dem Schweinsledereinband vom Westfälischen Frieden geschrieben hatte, begann die Heimat seiner fernen, im 21. Jahrhundert lebenden Erben zu sterben. Nun wollte der ausgelaugte Erdboden zwischen Lusen, Rachel und Arber selbst die anspruchslosen Fichten nicht mehr tragen. Von rachitischen Zweigen rieselten die toten, braun verfärbten Nadeln; die Baumwipfel verkrümmten sich in qualvoller Agonie, und vom Wurzelwerk her fraßen sich ätzende Säuren in das Geäder der Stämme.
    Die Astronauten, welche den Globus zu jener Zeit in weniger als drei Stunden umkreisten, berichteten von monströsen schmutzfarbenen Schwaden, die über Europa und den anderen Kontinenten lasteten. Unter dem vergifteten Firmament weiteten sich die Wüstenzonen der Erde immer mehr aus; der Treibhauseffekt bewirkte, daß Nordafrika, Mittelamerika, der Süden der USA sowie riesige Teile Asiens unbewohnbar wurden, und in
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