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Die dunklen Wasser von Arcachon

Die dunklen Wasser von Arcachon

Titel: Die dunklen Wasser von Arcachon
Autoren: David Tanner
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Nacht. Die Elise nahm Kurs auf Cap Ferret, um dahinter bald das offene Meer zu erreichen.
    Das kleine Boot schaukelte durchs ruhige Wasser, die Dieselmaschinen lärmten. Möwen flogen kreischend um die Takelage, sie würden dem Boot in der Hoffnung auf Beifang folgen wie eine aufgeregt flatternde Fahne. Im trüben Mondlicht sah das Becken aus wie eine unwirkliche Kunstinstallation. Lange Stangen, die die Lage der Austerntische unter Wasser markierten, ragten überall aus der See, die Fahrt ging vorbei an den hundertjährigen Cabanes tchanquées, hölzernen Pfahlbauten, die in Frankreich jedes Kind als Wahrzeichen des Beckens von Arcachon kannte.
    Kirchner hätte Lust gehabt, eine Zigarette zu rauchen. Seit einem halben Jahr hatte er wieder aufgehört, eigentlich in der Gewissheit, auch wieder damit anzufangen, aber jetzt war doch nicht der Moment dazu.
    Der Alte stand links neben ihm und navigierte, der Junge saß draußen und rauchte. Nach kurzer Fahrt war der Kahn aus dem Beckenmund ausgefahren und hatte seinen Bug ins offene Meer hineingedreht, das kleine Schiff wurde von unruhigem Seegang erfasst, über die Reling spritzte jetzt manchmal Wasser an Deck.
    Kirchner pendelte seinen schweren Körper gegen die wellenförmigen Bewegungen des Kutters aus, er stemmte die linke Schulter gegen eine Seitenscheibe des Führerhauses. Er war kein geübter Seemann, aber er wusste, wie man sich als Passagier auf kleinen Booten zu verhalten hatte.
    Schon als Kind war er mit seinem Vater zum Fischen in den Ärmelkanal gefahren, er hatte mit Freunden oft Makrelen und Stinte geangelt im Meer vor Grandcamp. Es waren Erfahrungen, die ihm auch später halfen, große Seekrankheiten auszuhalten, die sich im Grunde immer anfühlten wie ein kleiner Kreislaufkollaps.
    Er hatte derer schon viele überstanden, auf stürmischen Fahrten vor der spanischen Atlantikküste, als er über die große Ölpest von 1987 berichtet hatte. Er hatte mit Muscheltauchern den Indischen Ozean vor Aceh befahren, nach dem Tsunami. Mit deutschen Krabbenfischern war er auf der Nordsee unterwegs gewesen, und mit norwegischen Dorschjägern hatte er einmal zwei volle Wochen im nordischen Eismeer verbracht, an Bord eines Fabrikschiffes, das seine Beute noch auf hoher See in fertig verpackte Fischstäbchen verwandelte. Kirchner hatte großen Respekt vor der See und vor den Männern, die es täglich mit ihr aufnahmen.
    Rechts von ihm brüllten in Kopfhöhe alte Chansons aus einem Radio, die die Schönheit der Pariser Mädchen besangen, von irgendwoher kamen die krächzenden Geräusche des nächtlichen Funkverkehrs der Fischer, die sich und ihre Boote selbst in der Nacht und auf kilometerweite Entfernungen allein an der Stellung ihrer Bordlichter sicher erkannten. Sie nahmen Kontakt zueinander auf, wann immer sie sich begegneten, riefen sich über Funk anzügliche Witze zu oder tauschten Neuigkeiten aus über Fußball und Fanggründe, über Wetterwechsel und Blondinen.
    Dass diese Männer von einer Leiche da draußen im Meer nichts gehört haben, ist ausgeschlossen , dachte Kirchner.
    Nach einer guten Dreiviertelstunde Fahrt holte er deshalb knapp Luft und fragte den Alten neben sich: »Und was ist nun mit der Leiche, die ihr vorgestern aus dem Meer gefischt habt?«
    Der Alte sah ihn kurz an, schaute dann lange geradeaus und fing an, schwerfällig zu nicken, wie es Leute tun, die ihre eigenen Gedanken kommentieren. »Hab ich mir schon gedacht, Monsieur Le Monde , dass dich das interessiert.«
    »Und? Wie geht die Geschichte?«
    Der Alte schien mit sich selbst im Streit zu liegen.
    Er erzählte, dass tags zuvor, am frühen Morgen, vier Polizisten in Zivil am Hafen aufgekreuzt waren und eine Vollversammlung der Fischer verlangt hätten. Als sie endlich alle in der großen Fischhalle standen, stellte sich einer der Männer auf eine Kiste und sagte, dass jeder im Raum wisse, was in der Nacht passiert sei, und wer es noch nicht wisse, solle sich schnell schlaumachen. Dass er aber an alle appelliere, im Namen der Republik, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen, sondern in der Familie zu halten. Der alte Fischer spuckte die Ratschläge der Polizei verächtlich aus.
    »Wer quatscht, wird verfolgt, haben sie gesagt«, sagte der Alte, und spöttisch fügte er an: »Natürlich alles im Namen der Republik.«
    Kirchner sagte nichts. Seine Erfahrung als Reporter hatte ihn gelehrt, dass Menschen, die sich bedrängt fühlen, nichts erzählen. Man musste ihnen Raum geben zum
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