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Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)

Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)

Titel: Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)
Autoren: Andrea Gunschera
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nicht anmerken zu lassen.
     

6
     
     
     
    Eine Woche später, in der eisigen Kälte eines mitteldeutschen Bergstädtchens, dachte Henryk an ihre Unterhaltung. Martha hatte wirklich keine Vorstellung, wie schwierig es war, die richtigen Bleipigmente zu besorgen.
    Windböen fegten den Schnee von den Dächern. Er riss einen Arm hoch, um sein Gesicht zu schützen und überquerte halb laufend, halb rutschend die Straße. Schneewehen blockierten die Bürgersteige.
    Mit der behandschuhten Hand stieß er die Tür zum Laden auf. Hinter der Theke blätterte eine Frau mittleren Alters in einer Zeitung. Sie blickte nur kurz auf, als er eintrat. Henryk war froh über ihr Desinteresse. Er hätte sich ohnehin nicht mit ihr unterhalten können. Zwar verstand er ein paar Brocken Deutsch, konnte es selbst aber nicht sprechen. Er kaufte Wasser und zwei Packungen Kekse, dazu eine Straßenkarte. Ilsenberg hieß dieser Ort im Oberharz, vier Stunden hinter der deutsch-belgischen Grenze, eine Handvoll Häuser, die an einem Talhang kauerten.
    Der Otto-Schacht, sein eigentliches Ziel, lag höher in den Bergen. Ein paar Wanderwege führten da hinauf und ein Skilift, der jedoch nicht in Betrieb war, wegen des Sturms.
    Henryk trug seine Einkäufe zurück zum Mietwagen. Im Auto studierte er eine Zeitlang die Karte. Es war nicht mehr weit, höchstens noch zehn Kilometer. Dennoch eine abenteuerliche Strecke bei den Wetterverhältnissen. Die ganze Nacht hindurch hatte es heftig geschneit, und als er am Morgen aus dem Zug gestiegen war, hatte die Digitaluhr am Bahnhof zwei Grad minus angezeigt.
    Er ließ den Motor an und rollte aus der Parklücke. Der Wagen lenkte sich schwer und sperrig. Aber er wusste, dass es an ihm lag. Es war Jahre her, dass er zuletzt hinter einem Steuer gesessen hatte.
    Vor der nächsten Kreuzung bremste er zu heftig. Die Hinterräder rutschten, blockierten, viel zu spät kam der Wagen zum Stehen. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, einfach umzukehren. Das ganze verrückte Unternehmen abzubrechen und zurück nach Brüssel zu fahren.
    Er war erschöpft von der nächtlichen Reise. Trotz der Handschuhe fror er. Am Morgen, als er den zugigen Bahnsteig hinunter gelaufen war, zwischen einer Gruppe von Schülern, die sich Wortfetzen in dieser aggressiven Sprache zuriefen, hatte er sich verloren gefühlt. Wie die alten Leute, die manchmal den Weg nach Hause vergaßen.
    Aber nein, er musste das zu Ende bringen. Er hatte Martha ein authentisches Bild versprochen, und dafür brauchte er Bleierz aus den alten Minen. Er wollte sein Wort nicht brechen. Nicht wegen ein bisschen Schnee und Kälte.
    Wieder gab er zu viel Gas, der Motor heulte auf. Ruckend griff die Kupplung. Hinter dem Ortsschild bog er in eine schmale Straße, die sich in Serpentinen bergan schraubte.
    Der Schneefall wurde dichter. Im Radio lief britischer Pop. Der Song unterbrach für eine Verkehrsmeldung. Ein Unfall, Henryk verstand den Ortsnamen nicht. Heiße Luft strömte aus den Lüftungsschlitzen und wärmte seine Hände.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit glaubte er etwas zu sehen und hielt am Straßenrand. Zwei rote Stangen markierten einen Pfad, der den Hang hinauf führte. Dann entdeckte er auch das Holzschild mit den Wanderwegen.
    Er parkte den Wagen in einer kleinen Bucht. Beim Aussteigen stach ihm der Wind wie mit Eisnadeln in die Wangen.
    Er legte den Kopf in den Nacken und starrte hoch zum Gipfel, einer unregelmäßigen Kontur, die grau und neblig vor dem Himmel verschwamm. Es würde ein Abenteuer werden, und zwar kein angenehmes. Kein Mensch war so verrückt, bei diesem Wetter einen Berg zu besteigen. Aber andererseits war das ja eigentlich kein Berg, sondern ein Hügel. Eine locker bewaldete Flanke.
    Die Zweifel kehrten zurück. Er musste das nicht tun, wirklich nicht. Selbst wenn er den Hang erklomm, wenn er den Mineneingang fand und es schaffte, ins Innere zu gelangen. Wer garantierte ihm, dass er wirklich fand, was er suchte? Er wusste ja nicht einmal, ob er Bleierz erkennen würde, wenn er welches sah.
    Er konnte umdrehen und zurück nach Brüssel fahren. Martha hatte sicher Verständnis dafür. Sie würde es akzeptieren.
    Was also trieb ihn dort hoch?
    Er wollte sie beeindrucken, so einfach war das. Weil sie ihm das Gefühl gab, jemand zu sein. Sie hörte ihm zu. Sie interessierte sich für das, was er tat. Sie hatte sich seine Maltechniken erklären lassen und Details nachgefragt. Henryk erinnerte sich nicht, dass sich jemals jemand so viel
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