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Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)

Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)

Titel: Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)
Autoren: Andrea Gunschera
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Überstürzt reihte er die Worte aneinander, stolperte, doch schaffte es zugleich, seine Stimme zu zähmen. Er fiel zurück in seinen leisen, singenden Tonfall, der Konzentration von seinem Zuhörer erzwang.
    „Woran arbeiten Sie da?“, fragte der Mann.
    Henryk machte einen Schritt zur Seite, um das Porträt mit seinem Leib zu verbergen. Zur Hälfte jedenfalls, denn sonst hätte er in den Lichtstreifen treten müssen, der durch das Fenster fiel und den Boden spaltete. „Nichts.“
    „Vermeer van Delft“, entschlüpfte es dem Mann. „Sie kopieren da einen Vermeer.“ Er trat näher, ohne dass Henryk ihn daran hindern konnte. „Darf ich mal sehen?“
    Henryk bewegte sich nicht.
    „Mein Gott, wie können Sie bei dem Licht überhaupt arbeiten?“ Der Mann beugte sich vor. „Das ist beeindruckend.“ Sein Zeigefinger schmiegte sich gegen dickliche Lippen. „Wirklich beeindruckend. Haben Sie noch mehr davon?“
    „Das ist doch egal. Stellen Sie meine Bilder aus?“ Henryks Stimme klirrte. „Wollen Sie sie gleich mitnehmen?“
    „Ja.“ Der Mann hob die Hände, ein defensives kleines Lächeln. „Ja, wie Ihr Professor schon sagte. Sehr vielversprechend.“
    „Stellen Sie sie aus?“
    „Ja, natürlich.“ Wieder versuchte er einen Blick auf das Porträt zu erhaschen, aber Henryk drehte sich, so dass er es vollständig mit dem Rücken verdeckte. Er spürte, wie der Lichtschein seine Wange streifte.
    „Im November. Für vier Wochen. Und hier“, der Mann nestelte eine Karte aus der Brieftasche, „damit Sie meine Telefonnummer haben.“
    Paul Verhoeven stand auf der Karte. Galerist .
     
     
     
    Als der Morgen dämmerte, hatte Henryk den ausladenden roten Hut des Mädchens vollendet. Hinter den Fenstern zog ein purpurner Lichtstreif auf.
    Die Farbschicht glänzte, wo die ersten Sonnenstrahlen sie trafen. Ein Zittern lief über ihre Wange und ließ sie beinahe lebendig erscheinen. Henryk zog seine Hand von der Leinwand zurück, wo er sie berührt hatte.
    Er fragte sich, wer sie sein mochte. Vermeer hatte ihr keinen Namen gegeben. Nachlässigkeit? Oder ein Geheimnis, das es zu wahren galt? Vielleicht hatte der Künstler etwas mit ihr geteilt? Eine Liebschaft oder gar eine verborgene Schuld? In ihren Mundwinkeln entdeckte Henryk den Anflug eines Lächelns. Ein warmes Glücksgefühl stieg in ihm auf. Er studierte das Foto auf dem Tisch, ihren ernsten Blick. Dann wurde ihm bewusst, dass er es war, der sie zum Lächeln gebracht hatte. Sie schenkte ihm etwas, das sie Vermeer verwehrt hatte. Deshalb blieb er stehen und betrachtete sie noch länger, obwohl er sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen zu halten vermochte.
    Die Sonne stieg höher über die Dächer, Staub flirrte im Licht. Unter den Fenstern erwachte die Straße zum Leben und Henryk forschte nach dem Geheimnis im Gesicht des Mädchens.
    Bis ein Klingeln in seine Konzentration brach und alle Geister vertrieb. Er blinzelte.
    Die Klingel schlug abermals an.
    Resigniert wandte Henryk sich von der Staffelei ab. Er stoppte mitten in der Bewegung zur Tür, packte das Gestell und drehte es, dass das Gemälde abgewandt stand. Im Treppenhaus verhallten Schritte. Rasch durchquerte er den Raum und zog die Stahltür auf.
    „Halt“, rief er. „Warten Sie.“
    Die Schritte verstummten, dann tauchte der Kopf des Postboten am Treppengeländer auf. „Sie sind ja doch zu Hause“, brummte der Mann. „Einschreiben für Sie.“
    Henryk kritzelte die Unterschrift aufs Papier. Seine Hand zitterte. Der Blick des anderen ließ Scham in ihm aufsteigen. Er wollte etwas sagen, eine Erklärung, aber der Mann griff schon nach dem Klemmbrett und wandte sich ab.
    Rückwärts wich Henryk in sein Atelier zurück. Die Tür krachte ins Schloss. Der Knall brach sich in Echos von den Wänden. Oder er bildete sich das nur ein. Die Konturen verschwammen vor seinen Augen. Elende Müdigkeit. 
    Seine Augen schweiften zur Staffelei, glitten an der Rückseite des Gemäldes ab und sanken auf den Brief herunter, dessen Empfang er quittiert hatte. Ein dickes Kuvert, leicht verknittert. Er ritzte das Papier mit dem Daumennagel und las den Absender im Briefkopf, eine Anwaltskanzlei. Den Text überflog er nur, letzte Zahlungsaufforderung, Androhung der Räumungsklage.
    Henryk ließ sich auf das zerschlissene Sofa sinken. Als das Stipendium ausgelaufen war, hatte er seine Wohnung aufgegeben. Das Atelier kostete nicht viel, es lag in einer der billigsten Gegenden von Brüssel. Er hatte gedacht,
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