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Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)

Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)

Titel: Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)
Autoren: Andrea Gunschera
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Farbschichten abtragen müssen, schon um zu vermeiden, dass eine Röntgenuntersuchung Überraschungen zutage förderte.  
    Mit seinem Skizzenblock setzte er sich zurück auf die Fensterbank. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, setzte er seine Arbeit an einem Entwurf fort, den er am Morgen begonnen hatte. Die Kohlestriche verschwammen im Schatten, doch er schaltete die Lampe nicht ein. Das Zwielicht beseelte die Linien, schuf Details und malte Geschichten. Henryk formte eine Rundung, ein Blütenblatt, einen Reflex im Dunkel. Mit den Fingern strich er über das Papier und verwischte die schwarzen Konturen. Er konnte ihn spüren, diesen Moment. Wenn es zum Leben erwachte.
    Sacht stieß er den Atem aus. Das Papier zitterte unter seiner Berührung.
    Als die feine Trennlinie zwischen den Dächern und dem Himmel sich auflöste, klingelte das Telefon.
    Henryk schrak nicht zusammen, wie die Tage zuvor.
    Auf diesen Anruf hatte er gewartet.
     
     
     
    Das Gespräch dauerte nur kurz. Nachdem er aufgelegt hatte, schaltete er doch die Lampe ein. Unschlüssig schaute er sich um und versuchte, sein Atelier durch die Augen eines Besuchers zu sehen. Ein alter Speicher mit Steinfußboden, die Wände gekalkt und voller Schrunden. Vor dem Sofa türmten sich Decken und schmutzige Wäsche, die er mit dem Fuß zusammen geschoben hatte. Wie musste das auf Fremde wirken?
    Die andere Seite des Zimmers war ein Labyrinth aus Unrat und Kisten. Keilrahmen lehnten an der Wand, eine ausgehängte Tür, Papierrollen in einem Eimer. Mitten im Raum stand der Holztisch, daneben die Staffelei. Die Lampe verströmte gelbliches Licht, das an den Rändern zu einem Fiebersumpf zerlief.
    Henryk fragte sich, was Verhoeven beim ersten Betreten dieses Raums empfunden haben mochte. Nachträglich spürte er einen Anflug von Scham.
    Papiere bedeckten den Boden. Zeitungen, Zeichenblätter, zerrissene Seiten. Er bückte sich und raffte die Skizzen zusammen. Ein paar sortierte er aus und legte sie auf den Tisch, die anderen stopfte er in einen Karton. Rasch schob er die Decken zusammen und trug sie ins Bad, zusammen mit dem benutzten Geschirr.
    Er schlug die Tür zu und atmete tief ein.
    Dann schloss er von außen ab.
     
     
     
    Martha war pünktlich.
    Zwei Minuten vor Neun hielt ein Taxi vor der Hofeinfahrt. Vom Fenster her beobachtete Henryk, wie sie ausstieg und eine Tasche über die Schulter warf. Etwas später hörte er den Aufzug im Treppenhaus. Er entriegelte die Tür, bevor sie den Klingelknopf berührte.
    Marthas Absätze hallten auf dem Steinboden, als sie das Atelier betrat. In ihrem Mantel hingen Schneeflocken. „Warum ist es so dunkel hier?“
    „Die Deckenlampen sind kaputt“, erwiderte er.
    Sie zog den Mantel und die Handschuhe aus. Darunter trug sie ein schwarzes Kostüm. Sie musste vom Büro direkt zu seinem Atelier gefahren sein.
    „Soll ich Ihnen die Entwürfe zeigen?“, fragte Henryk.
    Sie nickte und drehte sich halb im Kreis. Ihr Lächeln verblasste. „Ich hatte mir das anders vorgestellt.“
    „Wie?“
    Ein Armreif klirrte leise, als sie die Hand bewegte.
    „Ich weiß nicht.“ Sie blickte zum Fenster. Unbehagen umwogte sie wie eine unsichtbare Wolke. „Hell. Viel heller. Und größer vielleicht.“
    „Eher wie ein Labor?“, schlug er vor, im Versuch, seine aufsteigende Hilflosigkeit zu überspielen.
    Martha trat nahe an den Tisch. Auf der Staffelei ruhte noch immer das Mädchenportrait.
    „Darf ich?“ Sie streckte eine Hand nach den Zeichnungen aus.
    Henryk ließ sie gewähren.
    „Sind die für mich?“ Sie klang beeindruckt.
    „Vermeer malte vor allem Alltagsszenen“, sagte er. „Und ein paar Porträts.“
    „Wie das da?“ Martha machte eine Kopfbewegung zur Staffelei.
    „Sie ist schön, nicht wahr?“
    „Sie lächelt.“ Martha trat nahe an das Gemälde. „Auf Ihrem Bild lächelt sie.“
    „Sie mag mich.“
    Die Augen der Sammlerin wurden schmal.
    Henryk senkte den Blick. Es war ihm einfach über die Lippen gegangen. Er hatte nicht nachgedacht.
    Aber dann, plötzlich, zuckte ihr Mund. Sie lachte leise. „Das ist originell.“
    „Ich habe ein paar Entwürfe gemacht.“ Henryk zog eine Skizze aus dem Stapel. „Eine Alltagsszene. Sehr typisch für Vermeer. Eine Frau steht am Tisch und arrangiert Blumen. Tulpen und Mohn vielleicht. Was denken Sie?“
    „Ist das authentisch?“
    „Warum nicht?“ Er lächelte. Die Unterhaltung begann ihm Spaß zu machen. Er hatte Angst gehabt, dass er nervös sein würde, und dann
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