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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß
Autoren: Yalda Lewin
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setzte.
    »Wo hast du das denn aufgetrieben«, fragte ich und nahm einen Schluck aus der Flasche.
    »In Hades Notfallkoffer. Frag lieber nicht weiter«, sagte sie. »Ich will gar nicht genau wissen, was er in den Untiefen noch so gebunkert hat.« Sie blickte sich um. »Einen schönen Platz hast du dir hier gesucht. Auch wenn von hier oben alles noch viel unwirklicher aussieht.«
    Ich nickte stumm. Sie hatte recht. Die maroden Gebäude. Die wuchernden Büsche, die sich ihr Territorium zurückeroberten. Die zerstörten Fensterscheiben. Ein Albtraum aus Verfall und Erinnerungen.
    »Simon wird uns die Hölle heißmachen, weil wir ihm den Keller verheimlicht haben«, sagte ich dann.
    »Er wird es verschmerzen«, entgegnete Mirella trocken.
    »Schließlich ist der Fall jetzt gelöst. Wir wissen, wer Clara auf dem Gewissen hat und was es mit den anderen Frauenleichen auf sich hat. Jetzt können alle endlich ihre Ruhe finden.«
    Ich musterte sie aus den Augenwinkeln. Kein Wort von Ernesto. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei Christoph Merseburg ausfindig machte. Hades hatte mir zudem erzählt, dass Simon bereits internationale Ermittlungen über Interpol angestoßen hatte. Die Klinik in Minsk würde in absehbarer Zeit sehr unangenehmen Besuch bekommen. Und vielleicht würde sich damit auch klären lassen, wie viele Menschen im Rahmen der Experimente von Heinrich Ewald wirklich zu Tode gekommen waren. Wo diese Menschen letztendlich geblieben waren, wusste wohl nur Christoph Merseburg …
    Mirella sah noch immer mitgenommen aus, aber das war kein Wunder. Die Ereignisse hatten sich in den letzten Stunden überschlagen. Mit Mirellas Waffe hatte Ewald plötzlich uns alle in der Hand gehabt.
    »Bist du in Ordnung?«, fragte ich leise.
    Mirella atmete tief durch und nickte. »Ja. Wird schon wieder. Allerdings werde ich wohl meine Fähigkeiten in Selbstverteidigung auffrischen müssen. Für Fälle, in denen die Illusionen nicht funktionieren.«
    »Und ich meine Zielsicherheit«, entgegnete ich trocken. »Eigentlich hätte ich dieses verrostete Scharnier über dem Fahrstuhl mit dem ersten Schuss treffen müssen.«
    Ich wollte nicht darüber nachdenken, was geschehen wäre, hätte ich diese verdammten Metallstreben verfehlt, oder hätte sich der Balken nur wenige Zentimeter weiter mittig in das Fahrstuhldach gebohrt. Die Vorstellung, dass ich Mirella um ein Haar für immer verloren hätte, schnürte mir die Kehle zu.
    »Glaubst du, Ewald hat Clara geliebt?« Mirellas Frage hing plötzlich wie eine empfindliche Seifenblase in der Luft.
    Überrascht blickte ich sie an. Das war das Letzte, was ich in diesem Moment von ihr erwartet hätte. »Ist das von Bedeutung?«
    »Allerdings«, erwiderte sie. »Wenn er all das nur wegen eines medizinischen Experiments gemacht hat, dann war er ein Monster. Wenn er sie aber geliebt hat, dann …« Ihre Stimme versagte.
    Ich räusperte mich. »Du willst jetzt nicht wirklich damit andeuten, dass diese Vorstellung deine gut versteckte romantische Ader berührt, oder? Der Typ war wahnsinnig, ein Psychopath! Und er hätte dich fast auch noch auf dem Gewissen!«
    Mirella schluckte. »So versteckt ist die Ader gar nicht.«
    »Immerhin gut kaschiert unter einer ebenso intelligenten wie zynischen Fassade«, entgegnete ich. »Und Romantik hin oder her, der Typ war irre.«
    Mirella antwortete nicht. Für einen Moment hörte man nur das Rauschen des Windes in den Kiefern.
    Ich seufzte leise. »Du willst also meine Meinung? Wirklich?«
    Mirella nickte stumm. Ihr Blick lag funkelnd auf mir.
    »Er hat sie nicht geliebt«, sagte ich mit fester Stimme. »Nicht wie man lieben sollte.«
    »Und das wäre?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Die alte Weisheit meiner Großmutter. Was du liebst, das lass gehen.«
    »Kommt es zu dir zurück, gehört es dir. Sonst war es niemals dein«, flüsterte Mirella.
    »Genau. Er hat Clara nicht losgelassen. Niemals. Nicht als sie lebte und nicht nach ihrem Tod. Das hat mit Liebe nichts zu tun.«
    »Hättest du für eine Frau getan, was er getan hat?«, fragte Mirella plötzlich.
    Es lag eine abwartende Spannung in ihrem Gesicht, bei deren Anblick sich mein Herz schmerzlich zusammenzog.
    »Ich würde für die richtige Frau tun, was er für ein Forschungsprojekt getan hat.«
    »Und«, fuhr Mirella leise fort, »würde diese richtige Frau denn auch davon erfahren?«
    Ich lächelte matt. »Vielleicht.«
    Für einige Minuten schwiegen wir, um uns die Bäume, das Zwitschern
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