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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß
Autoren: Yalda Lewin
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Orientierung mehr, wenn ich mich in dieses Labyrinth aus Gängen und Räumen unter den Heilstätten begab. Und ich wusste nicht, ob ich lebend wieder herauskommen würde. Und doch gab es keine Alternative. Ich war schon zu weit gegangen, um jetzt noch zurückzuschrecken.
    Ich schloss die Augen, dachte an Mirella, atmete tief durch – und schritt die verfallenen Stufen hinab.
    Die Dunkelheit umfing mich wie ein eisiger Mantel. Ich bewegte mich ein paar Schritte vor, dann blieb ich stehen. Es war unmöglich, auch nur die Hand vor Augen zu sehen. Alle meine Sinne waren bis aufs Äußerste gespannt.
    »Ewald?«, rief ich in die mich umfangende Nacht hinein. Meine Stimme hallte seltsam unwirklich von den kahlen Wänden wider. »Sie wollten spielen. Hier bin ich.«
    »Schach!«, antwortete eine kalte Stimme aus dem Nichts.
    Ich versuchte herauszufinden, wo Ewald sich befand. War er links von mir? Oder war seine Antwort eher von der anderen Seite gekommen? Mein Orientierungssinn versagte und ich spürte, wie mein Herz laut gegen den Brustkorb schlug. So laut, dass ich einen Moment fürchtete, Ewald könnte es hören. Schach hatte er gesagt. Eine Ankündigung, dass ich zu schlagen war. Dass er direkt bei mir war, mich mit seinem nächsten Zug auslöschen konnte. Ich unterdrückte ein Keuchen.
    »Ich spiele Schach für gewöhnlich nur im Hellen«, antwortete ich so beherrscht wie möglich.
    Für einen Augenblick blieb es still. Dann drang ein leises, amüsiertes Lachen an mein Ohr. »Sie meinen, Sie möchten mich ansehen, wenn Sie sterben? Ja?«
    Ein Streichholz flammte auf und für einen winzigen Moment hing mein Blick an der kleinen Flamme wie an einem langersehnten Ausweg. Doch das war ein Trugschluss. Ewald stand schräg links von mir, nur wenige Meter entfernt. Mit ruhiger Hand entzündete er eine Kerze und pustete dann das Streichholz aus. Die Kerze flackerte sanft in der leichten Zugluft des Kellers.
    Ewald sah zu mir hinüber. Unsere Blicke trafen sich. Irritiert bemerkte ich, dass er lächelte. »Haben Sie noch Fragen an mich, Jakob Roth?«
    Ich runzelte die Stirn. »Fragen? Was soll das? Ich könnte Sie direkt hier erschießen. Auf der Stelle.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Sicher. Aber das werden Sie nicht. Dann würden Sie nie erfahren, was passiert ist. Und außerdem ist die Gefahr, hier im Keller einen Querschläger zu produzieren, der Ihnen selbst die Lampen auspustet, viel zu hoch.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sie werden nicht schießen.«
    Er heftete den Blick so fest auf mich, dass ich ihn regelrecht als Druck auf meiner Haut spürte.
    »Ich dachte nur, Sie würden die ganze Wahrheit wissen wollen, bevor Sie das Zeitliche segnen«, fuhr er fort. »Es stirbt sich leichter, wenn alles geklärt ist. Das weiß ich. Tausende von Patienten können nicht lügen.«
    Ich räusperte mich. Die Kälte des Kellers drang mir in die Bronchien, in die Muskeln, in die Gedanken. Reiß dich zusammen, dachte ich und unterdrückte ein Schaudern. Reiß dich zusammen.
    »Tatsächlich gibt es da etwas, das ich gerne noch von Ihnen erfahren würde. Dieses Mittel. Injektionsserie 7B. Gibt es Dokumente darüber?«
    Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Warum interessiert Sie das?«
    »Pure Neugier«, antwortete ich. »Es muss noch etwas Anderes enthalten sein als nur Lilienalkaloide. Habe ich recht?«
    Ewalds Lächeln verbreiterte sich. Er stellte die Kerze auf einem kleinen Mauervorsprung ab und griff in die Hosentasche. Reflexhaft hob ich meine Waffe.
    Ewald lachte leise und schüttelte den Kopf. »Keine Sorge. Ich habe kein Ass im Ärmel. Zumindest keines dieser Art.«
    Er zog die Hand wieder hervor und ich sah, dass er ein kleines Fläschchen umklammert hielt, ähnlich der Glasphiole, die Hades aus dem medizinhistorischen Museum mitgebracht hatte. Er betrachtete das Fläschchen fast liebevoll. Dann nahm er es zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und hielt es hoch. Es befand sich eine Flüssigkeit darin, die im Licht der Kerze glitzerte wie flüssiges Gold.
    »Sehen Sie das hier?«, sagte er leise. »Das ist der letzte Rest des Originalmittels. Injektionsserie 7B.«
    »Das Medikament, das Clara geheilt hat«, stieß ich hervor.
    Ewald nickte lächelnd. »Ja. Der letzte Rest einer Erfindung, die die Welt der Tuberkulosekranken hätte verändern können. Für immer.« Er seufzte leise. »Leider ist die beste Erfindung nichts wert, wenn der Grundstoff nicht mehr zu bekommen ist. Die Lilie ist verloren.
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