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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß
Autoren: Yalda Lewin
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versorgen. Er säuberte sie fachmännisch und legte einen neuen Verband an. Während der letzten Handgriffe blickte er mich an. »Das mit den Lilien ist wirklich verrückt. Unglaublich. Da wartet eine ausgestorbene Art unten in diesem Keller, einfach so, ein ganzes Jahrhundert lang. Und doch ist sie nun für uns nutzlos.«
    Ich war fast froh darüber. »Dann forscht wenigstens niemand mehr an der ominösen Injektionsserie 7B herum«, murmelte ich. In meiner Schulter setzte ein schneidendes Ziehen ein, als ich den Arm bewegte. Aber es würde gehen.
    »Was ist mit diesem Merseburg?«, fragte ich.
    »Die Fahndung läuft«, erwiderte Hades, während er das Verbandmaterial wieder in die dafür vorgesehenen Schubfächer räumte. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn kriegen. Er steht unter dringendem Tatverdacht, Ernesto Sanchez erschossen zu haben.« Hades blickte mich prüfend an. Dann wurde seine Miene undurchdringlich. Er räusperte sich. »Das klingt jetzt vielleicht in deinen Ohren sehr merkwürdig, Jakob«, sagte er dann leise. »Aber nach allem, was ich von der Sache bisher mitbekommen habe, war Ewald genial. Auf seine Art. Ein Wahnsinniger, ja. Aber genial.«
    »Klingt, als hätte er hervorragend zu uns in die Akademie gepasst«, antwortete ich.
    Hades entging der sarkastische Unterton nicht. Er grinste. »Ja, das denke ich auch.«
    »Wo ist Mirella?«
    Er deutete mit einem Nicken auf einen weiteren Transporter, der einige Meter entfernt geparkt war. »Sie wird versorgt. Aber bis auf ein paar Schrammen an Körper und Seele ist sie okay, denke ich. Du kannst froh sein, dass sie es geschafft hat, im Ort Hilfe zu holen. Sonst hätten wir dich wahrscheinlich nicht mehr rechtzeitig gefunden.«
    Ein paar Schrammen an Körper und Seele. So konnte man es auch nennen …
    Hades verzog die Mundwinkel. »Es tut mir leid, dass ich Ewald nicht daran hindern konnte, die Pathologie mit ihr und der Leiche zu verlassen. Wirklich Jakob, das musst du mir glauben.«
    Ich nickte ihm beruhigend zu. »Ich weiß, mach dir keine Gedanken. Er hatte Mirellas Waffe. Und eine Mündung an der Schläfe ist ein verdammt überzeugendes Argument.«
    Ich legte die Decke zur Seite und kletterte vorsichtig aus dem Wagen. So sehr ich auch versuchte, nach außen ruhig zu wirken, in mir sah es vollkommen anders aus. Das Adrenalin, das mich während des Kampfes geflutet hatte, ließ noch immer meine Nerven flattern. Ich brauchte dringend einen Moment für mich. Und der beste Ort für ein wenig Ruhe lag oben auf den Dächern der alten Klinik.
    *
    17. November 1911
    Ich habe ein Licht gesehen. Und ein Lächeln. Eine Frau an meinem Bett, mit Haut wie Lilien und einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid. Doch das kann nicht sein, sagte man mir, es sei niemand im Zimmer gewesen, auf den die Beschreibung passt. Nur Luise war hier. Luise, die keinen Schritt von meiner Seite weicht. Sie ist ganz blass geworden und ganz still.
    Niemand sonst also. Keine Frau im schwarzen Kleid. Und wenn ich mir doch sicher bin? Hat sie nicht meine Hand gehalten? Spüre ich nicht noch die sanften Blicke auf mir?
    Ich soll nicht weiter darüber nachdenken, hat Doktor Ewald gesagt, stattdessen wieder zu Kräften kommen. Sein Lächeln ist inniger geworden. Oder bilde ich mir das ein? Er sah stolz aus und lobte meinen Mut. Welchen Mut? Manchmal streicht er mir über die Hand, als läge ihm etwas an mir. Es fällt mir schwer, seine Blicke zu deuten. Luise sagt nichts. Dünn ist sie geworden. Und schlaflos. Es ist, als wären Jahre vergangen, während ich im Fieber lag. Keine Birnen mehr aus der Küche. Und keine Gedichte. Ich frage mich, was Luise sieht, wenn sie mich anschaut. Das Band zwischen uns ist zerrissen, doch ich weiß nicht, warum. Sie verlässt das Zimmer, wenn der Doktor kommt.
    Die Fieber waren stärker als erwartet. Ob das Mittel wirkt? Ist es ein gutes Zeichen, dass ich heute zum ersten Mal wieder aufstehen kann, wenn auch unsicher? Dass der Husten fast ohne Blut ist? Dass meine Hände ihre Kraft zurückbekommen, ganz langsam, als könnten sie es selbst noch nicht glauben?
    Von Viktor kein Brief. Keine Karte. Nichts. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ein Lächeln. Doch es ist nicht seins.
    Der Doktor ist nach Berlin gefahren. Heilung ist möglich, hat er gesagt, bevor er ging, und mir über die Hand gestrichen. Heilung ist möglich.
    »Willst du auch ein Bier?«
    Ich war so in Gedanken versunken, dass ich Mirella erst bemerkte, als sie sich neben mich
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