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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß
Autoren: Yalda Lewin
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würde sich ein Balken wie ein Keil in den schmalen Raum zwischen Fahrstuhldach und Ende des Schachtes schieben und den Fahrstuhl stoppen – oder Mirella durchbohren. Mit klammen Fingern hob ich die Pistole und drückte ab. Einmal. Zweimal.
    Mit einem lauten Knall zersplitterte das Metall und einer der Balken löste sich knarrend, kippte durch sein eigenes Gewicht nach unten – und stoppte mit einem lauten Knirschen den aufwärts strebenden Fahrstuhl. Ein Sirren und Vibrieren setzte ein, als das alte Gefährt gegen den Widerstand ankämpfte. Dann ein heftiger Ruck, ein Beben, das den gesamten Schacht erfasste – und der Fahrstuhl stand.
    Eine beängstigende Stille legte sich über das verfallene Treppenhaus. Mit zitternden Knien stieg ich die Treppe hinauf.
    »Mirella? Hörst du mich?«
    Keine Antwort. Was, wenn ich mit meinem Schuss dafür gesorgt hatte, dass der Balken sie tötete … Mir wurde übel. »Mirella!«
    Ich stolperte die letzten Stufen hinauf. Mein Herz raste und ich musste mich regelrecht zwingen, meinen Blick nach rechts zu wenden, hin zum Fahrstuhldach.
    Mirella hatte den Blick starr zur Decke gerichtet, die nur einen knappen Meter über ihr den sicheren Tod bedeutet hätte. Ihr ganzer Körper bebte.
    »Alles in Ordnung?«
    Sie wandte den Kopf und starrte mich an. Ihr Gesicht war kreidebleich. »Hol mich hier raus«, flüsterte sie. »Schnell.«
    Ich weiß nicht, wie ich Mirella von den Fesseln befreite, denn ich zitterte selbst noch immer am ganzen Körper. Doch irgendwie schaffte ich es. Mirella kroch vorsichtig vom Dach hinunter, machte einen Schritt – und sackte sofort auf der Treppe zusammen. Ich packte sie an den Schultern. »Bist du ok?«
    Sie nickte stumm.
    Ohne nachzudenken, zog ich sie fest an mich. »Mein Gott …«
    Für einen Moment war da nur unsere Umarmung, die Wärme ihres Körpers und grenzenlose Erleichterung. Dann löste sie sich von mir. Unsere Blicke trafen sich.
    »Danke«, flüsterte sie heiser.
    Statt einer Antwort nahm ich ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie wie ein Ertrinkender. Und sie erwiderte den Kuss.
    »Wo ist er hin?«, fragte sie, als sich unsere Lippen wieder voneinander lösten.
    »Entkommen«, antwortete ich. »Er ist durch das Foyer abgehauen.«
    Mirella blickte vorsichtig durch eines der zerborstenen Fenster nach draußen. »Die Autos stehen noch da«, sagte sie leise. Dann blickte sie mich an. »Er ist noch hier.«
    »Jakob Roth!«, ertönte in diesem Moment eine Stimme von draußen. »Kommen Sie und fangen Sie mich. Das Spiel ist noch nicht zu Ende!«
    Mirella riss die Augen auf und packte mich am Arm. »Du gehst da nicht raus!«
    Einen kurzen Moment zögerte ich. Ewald war krank. Mit etwas Glück würde die Polizei ihn in kürzester Zeit aufgreifen. Doch dann kam mir in den Sinn, was Manuel über das Gelände gesagt hatte. Das ganze Areal ist unterkellert. Überall Gänge. Ich presste die Lippen aufeinander. Ewald kannte diese geheime Unterwelt wahrscheinlich so gut wie niemand sonst. Sein Gesundheitszustand hatte sich stabilisiert. Die Gefahr, dass er entkam und seine Versuche an einem anderen Ort unter neuer Identität weiterführte, war einfach zu groß. Ich hatte keine Wahl. Ich musste ihn stellen.
    »Und ob ich da rausgehe. Ich bringe diesen verdammten Mistkerl um«, knurrte ich und löste mich aus Mirellas Griff. »Rühr dich nicht von der Stelle!«
    Dann lief ich die Treppe hinunter. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen solchen Hass gespürt. Ich wollte Heinrich Ewald kriegen. Und wenn es das Letzte war, was ich in meinem Leben tat.
    Als ich aus dem dämmrigen Gebäude kam, beschattete ich geblendet meine Augen.
    »Hier bin ich!«, hörte ich Ewalds Stimme links von mir. Doch ich konnte ihn nicht sehen.
    Ich musterte das Gebäude, aus dem der Ruf gekommen sein musste. Das Haus mit dem Lilienkeller. Ewalds Haus. Hier kannte er sich aus wie niemand sonst. Er hatte mehr als genug Zeit darin verbracht und ich war mir sicher, dass er und niemand anderes für die unheimlichen Schächte im Boden verantwortlich war.
    Ich schluckte schwer, kontrollierte noch einmal meine Waffe, schloss die Hand fester um das kühle Metall – und machte mich auf den Weg in das verfallene Gebäude.
    Er war im Keller. Ich wusste es, noch bevor er mich rief. Seine Stimme hallte kalt aus den Tiefen herauf. »Kommen Sie spielen?«
    Einen Augenblick verharrte ich oben an der Treppe und blickte in die Finsternis hinab. Ich hatte keine Lampe dabei. Es gab keine
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