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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß
Autoren: Yalda Lewin
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und sein Blick ging an mir vorbei ins Leere. »Ja. Clara … Meine wunderschöne Clara …«
    Ich hielt den Atem an. Es ging eine merkwürdige Veränderung in Ewald vor. Als würde er in die Erinnerungen an damals abtauchen. »Sie war so jung«, sagte er wie zu sich selbst. »Ich hätte alles getan, um sie zu retten. Alles. Nicht wahr, Clara?«
    Ewald trat zu einem Mauervorsprung und wandte sich Sekunden später wieder zu mir um. Clara lag in seinen Armen, eine leblose Puppe in einem weißen Spitzenkleid. Sie hatte die Augen geschlossen und sah aus, als schlafe sie. Ewald stützte sie, als wäre sie nur geschwächt, als bräuchte sie nur einen Moment Ruhe, um wieder auf die Beine zu kommen. Hielt sie fest, als könnte er so die Illusion bewahren, dass sie noch am Leben war. In seinen Augen funkelte eine Mischung aus Liebe und Wahnsinn, die mir eisige Schauer über den Rücken jagte.
    »Mein Kleines …« Er strich dem Mädchen sanft mit den Fingerspitzen über die Wange. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
    »Claras Tuberkulose ist ausgeheilt«, sagte er leise und blickte mich an. »Das Mittel hat gewirkt. Sie hätte leben können. Hatte ein ganzes wunderbares Leben noch vor sich. Und sie war so begabt. So besonders.« Er schluckte schwer. »Doch die beste Medizin wirkt nicht gegen Missgunst und Eifersucht. Ich ließ Clara einen einzigen Tag alleine, als sie schon auf dem Weg der Besserung war. Ich hatte einen wichtigen Termin in Berlin. Und als ich abends zurückkehrte, war sie tot.« Er presste die Lippen fest aufeinander. »Das Mittel hat sie geheilt. Und die Eifersucht hat sie getötet. Ich habe Clara dann verschwinden lassen, damit meine Frau nicht in Schwierigkeiten kommt. Aber Beelitz war seitdem nicht mehr derselbe Ort für mich.«
    »Ihre Frau?« Mir schoss durch den Kopf, was in Claras Tagebuch über Alma Ewald gestanden hatte. Das Adlerauge. Sie hatte das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Überwacht. Und Emilie hatte mir erzählt, dass Alma Ewald immer wieder mit ihrer Eifersucht zu kämpfen gehabt hatte. Bei Clara schien es ihr schließlich gereicht zu haben.
    »Lassen Sie mich raten«, sagte ich. »Arsen? Deshalb konnten wir es nicht wirklich nachweisen, weil Clara ohnehin die Fowlersche Lösung bekam?«
    Ewald nickte stumm, und ich sah, wie ein leises Zucken durch seinen Körper lief. Er kämpfte mit den Tränen. Und in diesem Moment sah ich nicht mehr das Monster, das Menschen ohne Skrupel für seine medizinische Forschung benutzte. Ich sah einen Mann, dessen Herz gebrochen war.
    »Ich kam zu spät«, sagte er tonlos. Vorsichtig hauchte er Clara einen Kuss auf die Lippen und ließ sie dann auf eine Fensterbank sinken. »Zu spät. Wissen Sie, wie furchtbar es ist, wenn man nichts mehr tun kann?«
    Innerhalb von Sekunden wandelte sich sein Wesen. Er richtete sich auf, und der Blick, der mich traf, war eisig und entschlossen.
    »Genug geplaudert. Kommen wir zur Sache.«
    Ich sah das Metall der Zange aufblitzen, dann ertönte ein scharfes Klicken. Ewald hatte das Kabel durchtrennt. Und der Fahrstuhl setzte sich mit einem quietschenden Ruck in Bewegung.
    »Jakob!« Mirellas Schrei gellte durch den Fahrstuhlschacht.
    Ich keuchte auf. »Halten Sie das verdammte Ding an!«
    Ewald schüttelte lächelnd den Kopf. »Selbst wenn ich wollte, es geht nicht.«
    »Es muss gehen!« Ich hörte mich schreien wie unter Wasser. Ewald richtete die Pistole auf mich.
    Ich warf mich zur Seite und der Schuss verfehlte mich knapp. Die Kugel schlug dicht neben mir ein, Gestein spritzte von der Mauer fort. Drei Schritte vor und ich war bei Ewald, versuchte fieberhaft, ihm die Pistole zu entreißen. Mirellas Schreie. Das Rasseln des Fahrstuhls. Zu spät, zu spät …
    Niemals hätte ich vermutet, dass in Ewalds Körper noch so viel Kraft steckte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ich ihm die Waffe aus der Hand schlagen konnte. Sie schlug hart auf dem Boden auf. Ich griff danach, richtete sie auf Ewald, der in Richtung Foyer flüchtete, drückte ab – und verfehlte ihn.
    Meine Gedanken überschlugen sich. Ich sah den Fahrstuhl, der sich unerbittlich nach oben bewegte. Mirellas Schreie echoten von den Wänden und das Blut rauschte in meinen Ohren.
    Nur noch wenige Meter war Mirella vom sicheren Tod entfernt. Ich hastete die Treppe hinauf, den Blick nach oben gerichtet, und sah rostige Metallstreben, die einige morsche Balken direkt unter der Decke hielten. Wenn es mir gelänge, eine dieser Streben zu lösen, dann
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